Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
alles wirklich hübsch, allerdings auf eine ziemlich eintönige Art und Weise. Genau das ist das Problem in Nebraska. Was es auch ist, es nimmt kein Ende, so dass auch die angenehmen Dinge bald langweilig werden. Ich fuhr stundenlang – vorbei an Auburn, Tecumseh, Beatrice (eine Stadt mit knapp 10 000 Einwohnern, die immerhin zwei Hollywoodstars hervorgebracht hat: Harold Lloyd und Robert Taylor), Fairbury, Hebron, Deshler, Ruskin.
In Deshler legte ich eine Kaffeepause ein und war überrascht, wie kalt es war. Was das Wetter angeht, vereint der Mittlere Westen die Schattenseiten beider Hemisphären. Im Winter weht ein schneidender Wind aus der Arktis herüber. Er heult und wirbelt ums Haus und rüttelt an den Fensterläden. Er bringt haufenweise Schnee und eisige Kälte. Von November bis März muss man sich so sehr gegen den Wind stemmen, dass man sich nur in einem Winkel von zwanzig Grad vornüber gebeugt vorwärts bewegen kann. Man verbringt seine Zeit damit, das Auto aus Schneewehen freizuschaufeln oder Eis von den Fenstern zu kratzen, das mit Sekundenkleber am Glas zu haften scheint, und dann dauert es noch Stunden, bis es im Inneren des Wagens halbwegs warm wird. Und eines Tages kommt der Frühling. Der Schnee schmilzt, man läuft in Hemdsärmeln herum und hält das Gesicht in die Sonne. Und plötzlich ist der Frühling vorbei, und der Sommer ist da, einfach so, als hätte der liebe Gott im himmlischen Kraftwerk auf einen Knopf gedrückt. Nun strömt das Klima aus der anderen Richtung herüber; aus den Tropen im weit entfernten Süden, und es ist, als pralle man gegen eine Wand aus Hitze. Sechs Monate steht die Hitze über dem Land. Der Schweiß rinnt aus allen Poren. Das Gras verdorrt. Und die Hunde sehen aus, als würden sie am liebsten sterben. Läuft man durch Downtown, spürt man, wie die Glut des Asphalts durch die Schuhsohlen dringt. Wenn man dann
meint, es nicht mehr aushalten zu können, ist es plötzlich Herbst, und für zwei oder drei Wochen zeigt sich die Natur von ihrer freundlichen Seite. Und dann kommt der Winter, und der Kreislauf beginnt von vorn. Und du denkst: »Wenn ich groß bin, gehe ich weit, weit fort von hier.«
In Red Cloud, der Heimatstadt von Willa Cather, fuhr ich auf die US 281 in Richtung Kansas. Gleich hinter der Staatsgrenze liegt Smith Center, die Heimatstadt von Dr. Brewster M. Higley, aus dessen Feder Home on the Range stammt. Wer hätte gedacht, dass Home on the Range von jemandem mit dem Namen Brewster M. Higley verfasst worden ist? Man kann sich die Blockhütte ansehen, in der er es geschrieben hat. Doch ich hatte etwas viel Aufregenderes im Sinn. Ich war auf dem Weg zum geografischen Zentrum der Vereinigten Staaten. Man erreicht es über eine Nebenstraße, die direkt hinter dem Städtchen Lebanon vom Highway abzweigt und etwa eine Meile durch Weizenfelder zu einem verlassenen, kleinen Park führt. Neben einer Reihe von Picknicktischen befindet sich in diesem Park ein steinernes Monument, gekrönt von einer windgepeitschten Fahne und bestückt mit einer Tafel, auf der geschrieben steht, dass dies der Mittelpunkt des Festlands der Vereinigten Staaten ist. Ein geschlossenes Motel neben dem Park verstärkte den Eindruck der Verlassenheit. Anscheinend hatte man es in der Hoffnung gebaut, die Leute würden gern in dieser einsamen Gegend übernachten und ihren Freunden von dort Postkarten mit den Worten »Du errätst nie, wo wir gerade sind!« schicken. Kein Zweifel, der Besitzer des Motels hatte sich gründlich verrechnet.
Ich kletterte auf einen der Picknicktische und konnte meilenweit über die wogenden Felder blicken. Der Wind toste mit der Lautstärke eines Güterzugs um meine Ohren. Es kam mir vor, als wäre seit Jahren niemand mehr an diesem Ort gewesen. Ich stand genau in der Mitte der Vereinigten Staaten, inmitten von 230 Millionen Menschen – ein sonderbares Gefühl. Sollten jetzt von allen Seiten feindliche Truppen in Amerika einmarschieren,
wäre ich der letzte, den sie gefangen nähmen. Dies war er, der letzte Gefechtsstand. Als ich vom Tisch sprang und zurück zum Wagen ging, hatte ich ein schlechtes Gewissen, ihn so unbewacht zurückzulassen.
Ich fuhr in die Abenddämmerung. Über den Himmel jagten tief hängende Wolken. Die Landschaft war von seltsamem Reiz, ein Meer aus weißem Gras, so fein wie das Haar eines Kindes. Als ich Russen erreichte, war es schon dunkel, und es regnete. Die Scheinwerfer trafen auf ein Schild mit der Aufschrift WELCOME TO BOB DOLE
Weitere Kostenlose Bücher