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Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Titel: Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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Skalp die Berghänge hinunterstolpere, während der Luchs mich in die Fersen zwickt, stand mir so lebhaft vor Augen, dass ich eilig zurück ins Auto kroch, obwohl ich nur ein etwa briefumschlaggroßes Fleckchen Fenster gereinigt hatte, durch das ich blinzelte wie durch den Ausguck eines Panzerturms.
    Jetzt sprang der Wagen nicht an. Das hatte mir gerade noch gefehlt. Hier oben in der dünnen Luft keuchte und stotterte der Motor nur und war ruck, zuck abgesoffen. Ich nutzte die Wartezeit, um einen Blick auf die Karte zu werfen, und stellte bestürzt fest, dass noch ganze zwanzig Meilen vor mir lagen. Auf dieser Straße hatte ich innerhalb einer guten Stunde sage und schreibe
acht Meilen zurückgelegt. Die Gefahr, dass der Chevette es nicht mehr bis Victor und Cripple Creek schaffen könnte, wurde mir unangenehm bewusst. Zum ersten Mal kam mir der Gedanke, dass mir auf dieser Straße vielleicht nicht eine Menschenseele begegnen würde. Sollte ich hier sterben, dachte ich entmutigt, könnte es Jahren dauern, bis jemand mich oder den Chevette finden würde. Das wäre eine ausgesprochene Tragödie, denn abgesehen von allem anderen war die Garantie auf die Autobatterie noch nicht abgelaufen.
    Natürlich bin ich dort oben in den Bergen nicht abgekratzt. (Um die Wahrheit zu sagen – ich habe nicht die Absicht, jemals zu sterben.) Der Wagen sprang irgendwann an, ich überwand mühsam den letzten Gebirgspass und erreichte Victor ohne weitere Vorkommnisse. Victor bot einen idyllischen Anblick. Das Städtchen mit Gebäuden wie im Wilden Westen schmiegt sich unpassenderweise in ein grünes Tal von unbeschreiblicher Schönheit. Keine der einstigen Boomtowns boomte wie Victor und das sechs Meilen entfernte Cripple Creek. Auf dem Höhepunkt des Booms im Jahre 1908 verfügten beide Städte zusammen über 500 Goldminen und eine Bevölkerung von 100 000. Die Minenarbeiter wurden in Gold bezahlt. Innerhalb von rund fünfundzwanzig Jahren holte man Gold im Wert von 800 Millionen Dollar aus der Erde. Eine Menge Leute sind damals reich geworden. Jack Dempsey lebte in Victor und begann dort seine Karriere.
    Heute sind nur noch wenige Minen in Betrieb, und die Bevölkerung ist auf knapp eintausend zurückgegangen. Trotz seiner asphaltierten Straßen wirkte Victor wie eine Geisterstadt. Backenhörnchen flitzten zwischen den Häusern hin und her, und in den Ritzen der Gehsteige wuchs Gras. Das Städtchen war voll gestopft mit Antiquitäten- und Kunstgewerbeläden, die jedoch fast ausnahmslos geschlossen waren. Vermutlich warteten sie auf die Sommersaison. Nur wenige Läden standen leer. Am Amber Inn verkündete ein großes Schild, dass das Haus wegen
Steuerhinterziehung beschlagnahmt sei. Das Postamt war jedoch geöffnet, ebenso ein Café, in dem lauter alte Männer in Latzhosen und jüngere Männer mit Bärten und Pferdeschwänzen saßen. Alle trugen sie Baseballmützen, die hier allerdings nicht für Düngemittel, sondern für Bier warben, für Coors, Bud Lite oder Olympia.
    Ich beschloss, mein Mittagessen in Cripple Creek einzunehmen und machte mich auf den Weg. Kaum hatte ich Cripple Creek erreicht, wünschte ich, ich wäre in Victor geblieben. Cripple Creek liegt im Schatten von Mount Pisgah und Pikes Peak und zeigte sich weitaus touristischer als Victor. Obwohl sicher nicht viel Kundschaft kam, waren die meisten Läden geöffnet. Ich parkte vor dem Sarsaparilla Saloon an der Hauptstraße und sah mich um. Architektonisch unterschied sich Cripple Creek kaum von Victor. Doch hier war fast jedes Geschäft auf den Tourismus ausgerichtet. Es gab Souvenirläden, Snackbars, Eisdielen, eine künstliche Schlucht, in der Kinder nach Gold suchen konnten, und einen Minigolfplatz. Kurzum, es war ein ziemlich scheußlicher Ort. Das trostlose Wetter tat ein Übriges, um diesen Eindruck zu verstärken. Noch immer wirbelten Schneeflocken durch die Luft, und es war kalt. Cripple Creek liegt etwa dreitausend Meter über dem Meeresspiegel, und die Luft ist dünn genug, um bei Menschen, die nicht daran gewöhnt sind, eine unangenehme Kurzatmigkeit hervorzurufen. Die ganze Zeit spürte ich ein leichtes Unwohlsein. Da ich zu nichts weniger Lust hatte, als Eis zu essen oder eine Runde Minigolf zu spielen, setzte ich mich wieder ins Auto und kehrte Cripple Creek den Rücken.
    Als ich auf die US 24 stieß, bog ich links ein und fuhr in Richtung Westen. Schlagartig klarte der Himmel auf, und die Sonne schien. Von Westen her zog ein Geschwader bauschiger

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