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Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Titel: Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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Das Land war flach und braun, und überall traf ich auf entlegene Ortschaften mit so fantasielosen Namen wie Swink, Ordway oder Manzanola. Ihre Bewohner waren unverkennbar arm. In der Nähe von Spirituosengeschäften und Tankstellen schnüffelten verwahrloste Hunde herum, und im Gestrüpp der Straßengräben glitzerten zerschlagene Flaschen. Die Schilder entlang der Straße waren von Gewehrkugeln durchsiebt. Das war sicher nicht das Colorado, von dem uns John Denver so gern ein Liedchen trällert.
    Die Straße führte unmerklich, aber stetig bergauf. Jedes Städtchen am Highway lag ein paar Meter höher als das vorherige. Doch erst kurz vor Pueblo, 150 Meilen hinter der Staatsgrenze, konnte ich die Berge sehen. Plötzlich waren sie da. Blau und schneebedeckt erhoben sie sich in der Ferne.
    Ich wollte dem State Highway 67 in Richtung Norden zu den beiden alten Goldgräberstädten Victor und Cripple Creek folgen. Laut Karte lag eine landschaftlich reizvolle Strecke vor mir. Mir war jedoch entgangen, dass es sich um eine nicht asphaltierte Strecke handelte, die durch einen Gebirgspass mit dem Unheil verkündenden Namen Phantom Canyon führte. Sie erwies
sich als die miserabelste, steinigste und zerfurchtetste Straße, die ich je befahren habe. Jeder bewegliche Gegenstand im Wagen tanzte während der Fahrt, und hin und wieder flog eine der Türen auf. Zu allem anderen Übel konnte ich nirgendwo wenden. Auf der einen Seite ragte dicht neben der Straße eine Felswand so steil wie die Wand eines Wolkenkratzers empor, während sich auf der anderen Seite ein ebenso steiler Abgrund auftat, durch den ein reißender Fluss wirbelte. Im Schritttempo arbeitete ich mich Meter um Meter voran und hoffte, die Straße würde bald besser werden. Sie wurde natürlich nicht besser, sondern schlängelte sich nur immer steiler und gefährlicher bergauf. Zeitweise rückten die Seiten des Canyons näher zusammen, und ich war eine ganze Weile von Wänden aus brüchigem Gestein umgeben, die aussahen, als wären sie mit einem Hammer bearbeitet worden. Dann, ganz plötzlich, weitete sich der Canyon wieder und gab den Blick auf die haarsträubenden Tiefen der Schlucht frei.
    Über mir balancierten haushohe Felsbrocken auf steinernen Stecknadeln und schienen nur auf einen geeigneten Augenblick zu warten, um herunterzustürzen und mich einer Fußmatte gleichzumachen. Überall waren Spuren von Steinschlag zu sehen. Im ganzen Tal verstreut lagen riesige Brocken, die aus der Felswand gebrochen waren. Ich betete, dass mir kein Auto entgegenkommen möge, doch diese Sorge war unnötig, denn natürlich war außer mir in ganz Nordamerika niemand so dämlich, zu dieser Jahreszeit durch das Phantom Valley zu fahren. Jederzeit konnte ein plötzliches Unwetter die Straße unpassierbar machen, und das Auto würde monatelang festsitzen oder direkt in die Tiefe schlittern. Mir fehlte jede Erfahrung mit so lebensbedrohlichen Landschaften wie dieser. Vorsichtig fuhr ich weiter.
    Hoch oben in den Bergen überquerte ich eine hölzerne Brücke, die sich geradezu lächerlich wackelig über einen gähnenden Abgrund spannte. Es war eine dieser Brücken, aus denen
im Kino immer eine Latte unter den Füßen der Heldin bricht. Dann rutscht sie bis zu den Achseln durch das Loch und strampelt mit den hübschen Beinen hilflos in der Leere, während um sie herum Speere niederprasseln. Schließlich stürmt der Held herbei und rettet sie. Als Zwölfjähriger habe ich mich bei solchen Szenen immer gefragt, warum der Held seine Überlegenheit nicht nutzt und zu der Lady sagt: »O.k., ich rette dir das Leben, aber nachher will ich zugucken, wenn du dich ausziehst. Einverstanden?«
    Kaum lag die Brücke hinter mir, fing es an zu schneien. Der wässrige Schnee vermischte sich mit den Hunderten von Insekten, die sich seit Nebraska vor meine Windschutzscheibe geworfen hatten (welch eine sinnlose Verschwendung von Leben!). Es bildete sich ein brauner Matsch, den ich mit der Seifenlösung aus der Scheibenwaschanlage wegwischen wollte, was allerdings lediglich zu einer farblichen Aufhellung der Schmierschicht führte. Sehen konnte ich noch immer nichts. Also hielt ich an und sprang aus dem Wagen, um die Scheibe mit meinem Ärmel zu säubern. Sofort war mir klar, dass sich kein Luchs diese Gelegenheit entgehen lassen würde. Ich rechnete damit, dass jeden Moment ein Vertreter dieser Tierart auf meine Schultern springen und mir den Skalp vom Kopf reißen würde. Die Vorstellung, wie ich ohne

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