Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
junge Männer begegnet waren, doch dann sprach ich drei
andere Schüler an, und keiner von ihnen kannte Kaltblütig. Bei der Stabhochsprunganlage fand ich den Trainer, einen sympathischen jungen Lehrer der Sozialwissenschaften. Er hieß Stan Kennedy und beaufsichtigte gerade drei junge Athleten, die mit langen Stangen in den Händen über eine Aschenbahn rannten und dann mit ihren Köpfen und Schultern gegen eine etwa 1,50 Meter hohe, horizontale Latte krachten. Wenn es in Kansas als sportliche Disziplin galt, mit aller Kraft eine horizontale Latte zu rammen, waren diese Jungs vermutlich die Champions. Ich fragte Kennedy, was er davon hielt, dass so viele Schüler nichts über Kaltblütig wussten.
»Als ich vor acht Jahren hier anfing, hat mich das auch gewundert«, sagte er. »Schließlich war es das Aufregendste, das die Stadt je erlebt hat. Man muss aber bedenken, dass die Leute hier das Buch gehasst haben. Sie haben es sogar aus der öffentlichen Bücherei verbannt, und auch heute noch ist das Thema für viele tabu.«
Ich staunte. Wenige Wochen zuvor hatte ich noch in einem alten Life -Magazin gelesen, wie sehr die Bürger von Holcomb Truman Capote in ihr Herz geschlossen hatten, obwohl er schwul war und lispelte und außerdem noch komische Mützen trug. Nun zeigte sich, dass sie ihn verachteten, und zwar nicht nur, weil er schwul war, sondern weil er sich als außenstehender Großstädter in ihre privaten Tragödien eingemischt hatte, um daraus Profit zu schlagen. Die meisten Leute wollten die ganze Geschichte einfach vergessen und wussten zu verhindern, dass ihre Kinder sich dafür interessierten. Als Kennedy in seiner aufgewecktesten Klasse einmal nachfragte, wie viele Schüler das Buch gelesen hatten, stellte sich heraus, dass drei Viertel nicht einmal einen Blick hineingeworfen hatten.
Das überraschte mich. Wäre ich in einem Ort aufgewachsen, in dem etwas Aufsehenerregendes passiert ist, würde ich darüber lesen wollen. »Mir ginge es genauso«, meinte Kennedy. »Wahrscheinlich würden die meisten unserer Generation mehr
darüber erfahren wollen. Aber die Kids von heute sind anders. Viele von ihnen können kaum lesen. Man kann ihnen einfach nichts beibringen. Sie sind für nichts zu begeistern. Es sieht so aus, als wären sie nach all den Jahren, die sie vorm Fernseher verbracht haben, völlig abgestumpft. Einige von ihnen bringen nicht mal einen zusammenhängenden Satz zu Stande.
Wir waren uns einig: Das ist, you know , richtig unheimlich.
Viel mehr gibt es über den äußersten Westen von Kansas nicht zu berichten. Die vereinzelten Städte sind klein und die Highways meistens leer. Alle zehn Meilen zweigt eine Seitenstraße ab, und in jeder Seitenstraße wartet ein alter Pick-up-Truck vor einem Stoppschild. Man sieht sie schon von weitem in der Sonne glänzen – in Kansas sieht man alles schon von weitem. Zuerst denkt man, das Fahrzeug hätte eine Panne oder sei verlassen; ist man dann aber bis auf etwa zehn Meter herangekommen, gibt der Fahrer plötzlich Gas und fährt auf den Highway, so dass man gezwungen ist, die eigene Geschwindigkeit von sechzig Meilen auf zwölf Meilen pro Stunde zu drosseln und das Lenkrad mit der Stirn auf seine Stabilität zu überprüfen. Das Ganze wiederholt sich mit sturer Regelmäßigkeit. Neugierig, wer es wagt, mir in der Mitte von Nirgendwo solche Unannehmlichkeiten zu bereiten, setze ich zum Überholen an und erblicke einen kleinen, alten Mann von siebenundachtzig Jahren am Steuer des Wagens. Er trägt einen Cowboyhut, der ihm drei Nummern zu groß ist, und starrt angestrengt auf die leere Straße vor sich, als würde er ein Flugzeug durch ein Unwetter manövrieren. Dass er von einem anderen Fahrzeug überholt wird, nimmt er natürlich nicht wahr. In Kansas gibt es mehr solcher Autofahrer als in jedem anderen Staat dieses Landes. Es sind zu viele, als dass man sie demographisch erfassen könnte. Es hat fast den Anschein, als würden andere Staaten ihre Alten nach Kansas schicken. Vielleicht versprechen sie ihnen einen kostenlosen Cowboyhut, wenn sie sich dort niederlassen.
21
Obwohl ich es hätte besser wissen müssen, bestand Colorado in meiner Vorstellung nur aus Bergen. Kaum hätte ich Kansas verlassen, würde ich mich inmitten der schneebedeckten Rockies wiederfinden, in einer Landschaft aus saftigen Bergwiesen voller Butterblumen, über die sich ein blauer Himmel wölbte, und die Luft wäre so knackig wie frischer Sellerie – so dachte ich. Weit gefehlt.
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