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Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Titel: Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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und keine Motive. Als einige Jahre zuvor an einem Sonntagnachmittag in Downtown Des Moines ein paar Jugendliche das Büro eines ihrer Väter sauber machten, kam plötzlich ein Fremder herein, zerrte die Jungs in ein Hinterzimmer und schoss jedem von ihnen einmal in den Kopf. Ohne jeden
Grund. Dieser Kerl wurde zufällig gefasst; ebenso gut hätte er sich aber auch in einen anderen Staat davonmachen und seine Tat dort wiederholen können. Jahr für Jahr bleiben in Amerika 5000 Morde unaufgeklärt.

    Ich übernachtete in Wells, Nevada – die jämmerlichste, zwielichtigste, schäbigste Stadt, die ich je gesehen habe. Die wenigsten Straßen waren asphaltiert, und zumeist standen verbeulte Wohnwagen zu beiden Seiten. Jedermann in der Stadt schien alte Autos zu sammeln. In jedem Garten rosteten sie vor sich hin. Scheinbar alles in dieser Stadt existierte am Rande des Verfalls. Die paar Gewerbebetriebe, die Wells aufzuweisen hatte, lebten von dem Durchgangsverkehr auf der Interstate 80. Doch auch von den wenigen Truck Stops und Motels waren viele geschlossen, und die, die noch in Betrieb waren, standen offensichtlich kurz vor dem Bankrott. Fast an jedem Motelschild fehlten mehrere Buchstaben, so las ich »Lone St r Mot 1 – V can y«. Vor dem Abendessen machte ich einen Bummel durch das Geschäftsviertel. Es bestand überwiegend aus aufgegebenen Geschäften. Nur ein Drugstore, eine Tankstelle, ein Trailways-Omnibusdepot und das Overland Hotel – nein, H tel – hatten den Betrieb noch nicht eingestellt. Und es wimmelte von Hunden. Sie schnüffelten in den Türeingängen herum und pinkelten an so ziemlich alles, was ihnen in die Quere kam. Außerdem war es kalt. Die Sonne ging gerade hinter den fernen, kantigen Gipfeln der Jackson Mountains unter, und eine durchdringende Kühle lag in der Luft. Ich schlug meinen Kragen hoch und trottete zu der eine halbe Meile entfernten Kreuzung von Interstate und US 93, um die sich ein paar florierende Truck Stops gruppiert hatten und eine Insel aus Licht in der rötlichen Dämmerung bildeten.
    Ich ging in das Lokal, das mir das beste zu sein schien. Unter seinem Dach beherbergte es einen Souvenirladen, ein Restaurant, ein Kasino und eine Bar. Das kleine Kasino bestand aus
nur einem Raum mit mehreren Dutzend Spielautomaten, meistens für Fünfcentstücke. Das Restaurant war überfüllt und verraucht. Stimmengewirr erfüllte den Raum, und aus der Musikbox drang das Geklimper von Hawaiigitarren. Abgesehen von ein paar Frauen war ich der einzige unter den Gästen, der keinen Cowboyhut trug.
    Ich setzte mich in eine Nische und bestellte Brathähnchen. Die Kellnerin war wirklich freundlich, aber ihre Hände und Arme waren mit kleinen, offenen Wunden übersät, und sie hatte nur ungefähr drei Zähne. Ihre Schürze sah aus, als hätte sie den ganzen Nachmittag Ferkel geschlachtet, was mir, ehrlich gesagt, ein wenig den Appetit verdarb. Und dann brachte sie mein Abendessen, und mein Appetit war vollends dahin.
    Es war mit Abstand das schlechteste Essen, das man mir in Amerika jemals vorgesetzt hat. Schlechter als das Essen in Krankenhäusern, Tankstellen und Flughafenrestaurants. Noch miserabler als das Essen in Greyhound-Busbahnhöfen und der Mittagstisch bei Woolworth. Es war sogar noch ungenießbarer als das Gebäck, das man an den Automaten im Register and Tribune Building in Des Moines ziehen konnte, und das schmeckte schon, als hätte sich jemand darüber erbrochen. Dieses Essen war einfach grauenhaft, und dennoch schaufelten die übrigen Gäste es in sich hinein, als gäbe es kein morgen. Ich stocherte eine Weile darin herum – schwabbeliges Brathähnchen, Kopfsalat mit schwarzen Adern, Pommes frites, die wie Albinoschnecken aussahen – und gab dann auf. Ich schob den Teller beiseite und bereute, das Rauchen aufgegeben zu haben. Als sie sah, wie viel ich übrig gelassen hatte, fragte mich die Kellnerin, ob sie mir den Rest einpacken solle.
    »Nein danke«, sagte ich und lächelte schwach, »ich glaube nicht, dass ich einen Hund finden würde, der das frisst.«

    Wenn ich es mir recht überlege, kann ich mich doch an ein kulinarisches Erlebnis erinnern, das noch entmutigender war als
mein Abendessen in Wells, nämlich das Mittagessen im Speisesaal der Callanan Junior High School in Des Moines. Der Speisesaal im Callanan erinnerte an die Kulisse eines Gefängnisfilms. In langen Reihen schlurften wir schweigend zur Essensausgabe, wo man unsere Näpfe mit formlosen Klumpen füllte. Die

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