Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
Frauen an der Essensausgabe sahen aus wie Insassen einer psychiatrischen Anstalt, die man freigestellt hatte, damit sie in öffentlichen Schulen das Essen vergifteten. Das Essen war nicht nur unansehnlich, es war undefinierbar. Hinzu kam die ständige Anwesenheit des stellvertretenden Rektors, Mr. Snoyd, der stets um uns herumschlich und nur darauf wartete, dass er einen von uns seinem Tischnachbarn zuflüstern hörte: »Sag mal, was ist das heute wieder für ein Fraß?«, damit er ihn am Kragen packen und in sein Büro abführen konnte. Eine Mahlzeit im Callanan war, als ließe man sich den Magen im Rückwärtsgang auspumpen. Hungrig und höchst unzufrieden ging ich zum Motel zurück, sah ein wenig fern und las. Schließlich fiel ich in diesen unruhigen Schlaf, der einen überkommt, wenn der ganze Körper schläfrig ist und nur der Magen rebelliert: »WO ZUM TEUFEL IST MEIN ABENDESSEN? HEY, BILL, HÖRST DU MICH? WO ZUM TEUFEL BLEIBT MEINE ABENDRATION AN NÄHRWERTEN?«
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Und hier eine wahre Geschichte am Rande: 1958 erkrankte meine Großmutter an Dickdarmkrebs und zog in unser Haus, um zu sterben. Wir hatten damals eine Putzfrau namens Mrs. Goodman. Sie war zwar ein bisschen unterbelichtet, besaß aber alle Tugenden eines guten, katholischen Herzens. Nach der Ankunft meiner Großmutter wurde Mrs. Goodman auffallend mürrisch, was sonst nicht ihre Art war. Dann, eines Nachmittags kurz vor ihrem Feierabend, sagte sie meiner Mutter, dass sie nicht länger für uns arbeiten könne, weil sie sich bei meiner Großmutter nicht anstecken wolle. Meine Mutter versicherte ihr, dass Krebs nicht ansteckend sei, und besserte ihren Lohn ein wenig auf, um sie für die Mehrarbeit zu entschädigen, die ihr durch die Anwesenheit meiner Großmutter entstanden war. Also blieb Mrs. Goodman, wenn auch unverkennbar widerwillig. Und kaum drei Monate später erkrankte auch sie an Krebs und starb kurz darauf.
Nun ja, da meine Familie die arme Frau auf dem Gewissen hat, hatte ich schon immer das Bedürfnis, ihr Andenken in irgendeiner Weise zu ehren. Und ich meine, diese Gelegenheit ist so gut wie jede andere, insbesondere, da ich Ihnen über die Fahrt von Wells, Nevada, nach Twin Falls, Idaho, nichts von Interesse zu berichten weiß.
Also, leben Sie wohl, Mrs. Goodman, es war schön, Sie gekannt zu haben. Und uns allen tut es sehr, sehr Leid.
Twin Falls war ein hübsches Städtchen – Mrs. Goodman hätte es gefallen, da bin ich sicher; allerdings kann man wohl davon
ausgehen, dass einem toten Menschen jeder Tapetenwechsel recht wäre, und die Landschaft im südlichen Idaho war grüner und fruchtbarer als alles, was Nevada zu bieten hatte. Idaho ist bekannt für seine Kartoffeln, obwohl das um zwei Drittel kleinere Maine eigentlich mehr davon anbaut. Vor allem verdankt der Staat seinen Wohlstand dem Bergbau und der Holzwirtschaft, besonders in den höher gelegenen Regionen der Rockies unweit der kanadischen Grenze, mehr als 500 Meilen nördlich von Twin Falls. Ich war auf dem Weg nach Sun Valley, dem berühmten Wintersportort in den Sawtooth Mountains, und zu der Nachbarstadt Ketchum, in der Ernest Hemingway sein letztes Lebensjahr verbrachte und wo er sich dann das Hirn aus dem Schädel blies. Das habe ich schon immer für eine besonders rücksichtslose und egoistische Art des Selbstmords gehalten (nicht, dass ich mich besonders dafür interessiere, keine Sorge). Als wäre die Familie nicht bestürzt genug darüber, dass man nun tot ist, auch ohne dass man obendrein die ganzen Möbel ruiniert.
Während sich Ketchum als ziemlich touristisch erwies, empfand ich Sun Valley als einen sehr angenehmen Ort. Das Städtchen wurde in den dreißiger Jahren von der Union Pacific Railroad als Wintersportort gegründet, um auch im Winter Urlauber in diese Region zu locken. Es liegt in einer herrlichen Landschaft, umgeben von zerklüfteten Bergen, und verfügt über einige der besten Skipisten des Landes. Leute wie Clint Eastwood und Barbra Streisand besitzen Häuser in Sun Valley. Ich warf einen Blick in das Fenster eines Immobilienmaklers und entdeckte nicht ein Kaufobjekt für unter 250 000 Dollar.
Den Stadtkern von Sun Valley im Grunde ein einziges kleines Einkaufszentrum – hatte man im Stil eines bayrischen Dorfes errichtet. Er gefiel mir ausgesprochen gut. Wie so oft bei diesen Dingen in Amerika war es reizvoller als ein echtes bayrisches Dorf. Das hatte zwei Gründe: 1. war es besser gebaut und überdies malerischer, und 2. hatten seine
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