Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
Ferienglückseligkeit.
Wir schleppten uns über blaue Berge, durch braune Prärien und zahllose kleine und große Städte, ohne jemals einen Ort zu finden, der auch nur eine entfernte Ähnlichkeit mit jener verträumten Stadt besaß. Wir kamen durch heiße, staubige Ortschaften voller abgemagerter Hunde, geschlossener Kinos, schmuddeliger Restaurants und Tankstellen, die aussahen, als wären sie schon für zwei Kunden pro Woche dankbar. Doch ich wusste, irgendwo musste es diese Stadt geben. Es war undenkbar, dass eine Nation, die die Kleinstadt so entschlossen zum Ideal erhob und sich so hingebungsvoll mit diesem Traumgebilde beschäftigte, nicht irgendwo eine perfekte Stadt zu Stande gebracht haben sollte – einen Ort der Eintracht und des Fleißes, ohne Einkaufszentren und gigantische Parkplätze, ohne Fabriken und Drive-In-Kirchen, ohne kommerzielle Scheiße und verkommene Profitgier von vorne bis hinten. In diesem zeitlosen Ort wäre Bing Crosby der Priester, Jimmy Stewart wäre der Bürgermeister, Fred Macmurray der Rektor der Highschool, Henry Fonda ein Quäker-Farmer. Walter Brennan würde die Tankstelle betreiben, während ein knabenhafter Mickey Rooney Lebensmittel ausliefern würde, und an irgendeinem offenen Fenster würde Deanna Durbin singen. Und allgegenwärtig im Hintergrund wären der Junge auf dem Rad und die beiden Männer mit dem forschen Gang. Die Stadt, nach der ich suchte, wäre eine Mischung, ein Amalgam aus all den Städten, die mir in Filmen und Büchern begegnet waren. Und das könnte auch ihr Name sein – Amalgam, Ohio, oder Amalgam, North Dakota, wo auch immer sie liegen mochte. Aber es musste sie geben. Und auf dieser Reise wollte ich sie finden.
Ich fuhr und fuhr, durch flaches Ackerland und kleine, leblose Städte: Hull, Pittsfield, Barry, Oxville. Auf meiner Karte lag Springfield nur etwa fünf Zentimeter rechts von Hannibal, doch es schien, als würde die Fahrt Stunden dauern. Und so war es
auch. Ich gewöhnte mich nur langsam an die Ausmaße des amerikanischen Kontinents, wo Staaten so groß sind wie anderswo ganze Nationen. Illinois ist fast doppelt so groß wie Österreich und viermal so groß wie die Schweiz. Zwischen den Städten erstreckt sich so viel Leere, so viel Raum. Man kommt durch einen kleinen Ort, sieht, dass das einzige Restaurant überfüllt ist, und denkt: »Na gut, dann warte ich mit dem Kaffee eben, bis ich in Fuddville bin.« Denn schließlich kann es bis Fuddville ja nicht mehr weit sein. Dann fährt man zurück auf den Highway und erblickt das Schild FUDDVILLE 102 MEILEN, und endlich wird einem klar, dass man es hier mit anderen geographischen Maßstäben zu tun hat. Dementsprechend wenig detailliert sind die Landkarten. Auf einer britischen Karte ist verantwortungsbewusst jede Kirche und jedes öffentliche Gebäude eingezeichnet. Flüsse von lächerlicher Winzigkeit – Flüsse, über die man springen kann – stellen bedeutende Wahrzeichen dar und sind meilenweit bekannt. Auf amerikanischen Karten fehlen dagegen ganze Städte. Ortschaften mit Schulen, Geschäften und Hunderten von Seelen lösen sich einfach in Luft auf.
Das Straßennetz wird lediglich grob angedeutet. Da studiert man die Karte und meint, mit der als grauen Linie gekennzeichneten Landstraße zwischen, sagen wir, Weinerville und Bewilderment eine Abkürzung entdeckt zu haben, mit der sich die Fahrzeit um mindestens dreißig Minuten verkürzen lässt. Verlässt man dann aber die Hauptstraße, findet man sich in einem Gewirr nicht auf der Karte verzeichneter Landstraßen wieder, die sich wie Risse in einer gesprungenen Glasscheibe durch die Landschaft ziehen.
Vor allem abseits der Hauptstraßen gerät die Sucherei nach dem richtigen Weg bald zu einer frustrierenden Angelegenheit. In der Nähe von Jacksonville verfehlte ich eine Abzweigung nach Springfield und musste einen meilenweiten Umweg fahren, um wieder dorthin zu kommen, wo ich hin wollte. Das passiert
einem in Amerika nicht gerade selten. Wenn es um die Aufstellung von Straßenschildern geht, zeigen sich die zuständigen Behörden äußerst zurückhaltend. Dies ist umso erstaunlicher, da sie den Reisenden geradezu verschwenderisch über beliebige Nebensächlichkeiten informieren – WILLKOMMEN IM BODENSCHUTZGEBIET VON BUBB COUNTY, STAATLICHE SPROTTENBRUTSTÄTTE 5 MEILEN, MI. VON 3.00 BIS 6.00 UHR PARKEN VERBOTEN, ACHTUNG: TIEFFLIEGEN-DE GÄNSE, ENDE DES BODENSCHUTZGEBIETES VON BUBB COUNTY. Auf Landstraßen steht man häufig vor
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