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Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Titel: Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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die Stadt aus wie in Lincolns Tagen und veranschaulicht eindrucksvoll, warum es niemandem schwer fiel, von hier zu verschwinden. Dabei bieten die über mehrere grüne Lichtungen verteilten dreißig oder vierzig Blockhütten eigentlich einen sehr hübschen Anblick.
    Es war ein herrlicher Herbstnachmittag. Ein warmer Wind wehte, und das weiche Sonnenlicht verfing sich in den Bäumen. Alles wirkte unglaublich idyllisch. Die Häuser selbst darf der Besucher nicht betreten. Stattdessen wandert man von einer Hütte zur anderen, schaut durch Fenster und Türen und bekommt so eine Vorstellung von dem Leben, das die Menschen hier führten. Vor allen Dingen muss es ausgesprochen unbequem gewesen sein. An jedem Haus gibt ein Schild Auskunft über seine einstigen Bewohner. Die historischen Nachforschungen waren von beachtlicher Sorgfalt. Leider wiederholt
sich alles nach einer Weile. Hat man erst durch die Fenster von vierzehn Blockhütten geblinzelt, nähert man sich der fünfzehnten schon mit spürbar weniger Enthusiasmus, und ab der zwanzigsten treibt einen nur noch die Höflichkeit vorwärts. Schließlich fühlt man sich verpflichtet, für jede einzelne Hütte Interesse zumindest vorzutäuschen, um all die Mühe zu honorieren, die es mit sich gebracht haben muss, diese Hütten zu bauen und den Boden nach alten Schaukelstühlen und Nachttöpfen zu durchwühlen. Doch tief im Herzen gesteht man sich ein, was für ein verdammtes Glück es wäre, nie wieder eine Blockhütte sehen zu müssen. Ich bin sicher, Lincoln dachte genau dasselbe, als er seine Koffer packte und beschloss, kein hinterwäldlerischer Kaufmann mehr zu sein, sondern sich der Befreiung der Sklaven und der lohnenderen Karriere eines Präsidenten der Vereinigten Staaten zu widmen.
    Am hinteren Ende des Ortes kam mir ein älteres Ehepaar entgegen. Die beiden schleppten sich nur mühsam vorwärts und sahen ziemlich müde aus. Im Vorübergehen warf mir der Mann einen mitfühlenden Blick zu und munterte mich auf: »Nur noch zwei!« Am Ende des Weges, auf dem sie gekommen waren, konnte ich eine der beiden letzten Hütten sehen. Sie wirkte klein und weit entfernt. Ich wartete, bis das ältere Ehepaar in einer Kurve verschwunden war, und setzte mich unter einen Baum, eine stattliche Eiche, in deren Laub sich das erste Gold des Herbstes mischte. Erleichtert atmete ich auf und fragte mich, was mich als Fünfjährigen an diesem Ort so fasziniert hatte. War eine Kindheit damals so langweilig? Ich wusste, mein eigener kleiner Sohn würde sich bei der Vorstellung, anderthalb Tage in einem Auto eingesperrt zu sein, nur um einen Haufen langweiliger Blockhütten zu sehen, zu Boden werfen und händeringend nach Luft schnappen. Jetzt könnte ich ihn verstehen. Eine Weile grübelte ich darüber nach, was wohl das größere Übel sei – ein so langweiliges Leben zu führen, dass man allzu leicht zu beeindrucken ist, oder so viele Eindrücke
aufzunehmen, dass das Leben vor Abstumpfung langweilig wird.
    Doch dann fiel mir ein, dass man mit Grübeln nur seine Zeit verschwendet. Also brach ich auf, um herauszufinden, ob sich nicht irgendwo eine Tafel Baby-Ruth-Schokolade auftreiben ließ – eine weitaus sinnvollere Aufgabe.

    Hinter New Salm bog ich auf die Interstate 55 und fuhr anderthalb Stunden in Richtung St. Louis im Süden. Auch das war langweilig. Auf einer Straße, so schnurgerade und breit wie eine amerikanische Bundesautobahn, sind fünfundfünfzig Meilen pro Stunde einfach zu wenig. Es ist, als bewege man sich im Schritttempo vorwärts. Die Fahrzeuge auf der Gegenfahrbahn scheinen einem wie auf einem dieser Förderbänder für Fußgänger, die man auf Flughäfen findet, entgegenzuschleichen. Während die Autos vorbeigleiten, kann man die Menschen darin erkennen und einen eingehenden Blick auf ihr Leben werfen. Von Autofahren kann keine Rede sein. Um den Kurs zu halten, muss man gelegentlich eine Hand auf das Lenkrad legen, ansonsten hat man Zeit für die kompliziertesten Dinge: Man kann sein Geld zählen, sich die Haare bürsten, das Auto aufräumen, den Rückspiegel missbrauchen, um Mitesser zu entfernen, Karten und Reiseführer studieren oder die Garderobe wechseln. Lässt sich am Auto eine Dauergeschwindigkeit einstellen, kann man ebenso gut auf den Rücksitz klettern und ein Nickerchen machen. Dass man das Kommando über zwei Tonnen dahinsausenden Metalls führt, ist ziemlich schnell vergessen. Erst wenn man beginnt, die an Baustellen aufgestellten Leitkegel durch die

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