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Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Titel: Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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langen, hohen Brücke überquerte. Von hier bis hinunter nach Louisiana ist der Mississippi ungeheuer breit. Er wirkt friedlich und träge, steckt aber voller Gefahren. Alljährlich fordert er Hunderte von Menschenleben. Ein Farmer, der auf den Fluss hinausfährt, um zu fischen, starrt das Wasser an und denkt: Ich möchte wissen, was passiert, wenn ich meinen kleinen Zeh da reinstecke, und das Nächste, was man von ihm hört, ist, dass seine aufgedunsene Leiche – noch im-mer mit seltsam gleichmütigem Gesichtsausdruck – im Golf von Mexiko treibend aufgefunden wurde. Der Mississippi ist heimtückisch und wild. Als er 1927 über die Ufer trat, überschwemmte er ein Gebiet von der Größe Schottlands. Das nennt man einen ernst zu nehmenden Fluss.
    In Kentucky begrüßten mich überall riesige Schilder mit der Aufschrift FEUERWERKSKÖRPER! In Illinois sind private Feuerwerke per Gesetz verboten, in Kentucky nicht. Wer also in Illinois lebt und sich die Finger verbrennen will, fährt über den Fluss nach Kentucky. Früher sah man viel mehr Schilder dieser Art. War in einem Staat die Verkaufs steuer auf Zigaretten niedriger als in einem Nachbarstaat, installierten alle Tankstellen und Cafés im Grenzgebiet große Schilder auf ihren Dächern mit den Worten STEUERFREIE ZIGARETTEN! EINE PACKUNG 40 CENTS! KEINE STEUERN!, und alle Leute aus dem Nachbarstaat kamen und beluden ihre Autos mit Zigaretten zu Schleuderpreisen. Als in Wisconsin zum Schutz der einheimischen Milchbauern der Verkauf von Margarine verboten war, strömten
sämtliche Bürger von Wisconsin, die Milchbauern inbegriffen, nach Iowa, wo allerorten große Schilder verkündeten: MARGARINE ZU VERKAUFEN! Später strömten sämtliche Bürger von Iowa nach Illinois, weil es dort keine Verkaufssteuern gab, oder nach Missouri, weil man dort eine um fünfzig Prozent niedrigere Verkaufssteuer auf Benzin erhob. Ein weiteres Phänomen war die unterschiedliche Handhabung der Sommerzeit. So konnte es passieren, dass im Sommer die Uhren in Illinois zwei Stunden früher als in Iowa und eine Stunde später als in Indiana anzeigten. Alles war auf irgendeine Weise verrückt. Dieses Durcheinander veranschaulichte jedoch eindrucksvoll, inwiefern die Vereinigten Staaten tatsächlich aus fünfzig selbstständigen Ländern bestanden (damals achtundvierzig). Seitdem scheint sich vieles geändert zu haben, und ich sah mich mit weiteren schmerzlichen Verlusten konfrontiert.
    Ich fuhr durch Kentucky und dachte über schmerzliche Verluste nach, als mir schlagartig der schmerzlichste aller Verluste bewusst wurde – die Burma-Shave-Schilder. Burma Shave war eine Rasiercreme in der Tube. Ich weiß nicht, ob sie überhaupt noch produziert wird. Eigentlich kenne ich niemanden, der sie jemals benutzt hat. Jedenfalls stellte die Herstellerfirma vor Jahren raffinierte Schilder entlang den Highways auf. Sie standen geschickt verteilt in Fünfergruppen beieinander und lasen sich im Vorbeifahren wie kleine Gedichte: IF HARMONY / IS WHAT YOU CRAVE / THEN GET / A TUBA / BURMA SHAVE. Oder: BEN MET / ANNA / MADE A HIT / NEGLECTED BEARD / BEN-ANNA SPLIT. Bereits in den fünfziger Jahren gehörten die Burma-Shave-Schilder schon fast der Vergangenheit an. Verteilt auf all die Tausenden von Meilen, die wir damals zurückgelegt haben, kann ich mich nur an etwa ein halbes Dutzend dieser Schilder erinnern. Inmitten der eintönigen Landschaft waren sie von unschätzbarem Unterhaltungswert und zehnmal besser als Reklametafeln und Pellas kleine Windmühlen, nur zu übertreffen von Massenkarambolagen und schweren Unfällen.

    Kentucky erwies sich als ebenso hügelig, sonnig und hübsch wie das südliche Illinois. Nur die Häuser wirkten hier weniger gepflegt und wohlhabend als im Norden. Stählerne Brücken führten über sich windende Schluchten, und Unmengen toter Tiere klebten auf der Straße. Ich sah viele bewaldete Täler. In jedem Tal stand eine kleine, weiße Baptistenkirche, und unzählige Schilder entlang der Straße erinnerten mich daran, dass ich mich nun im Bible Belt, dem Land der Bibel, befand: JESUS, DER ERLÖSER. LOBET DEN HERRN. CHRISTUS IST KÖNIG.
    Ehe ich mich’s versah, lag Kentucky hinter mir. Der Staat verjüngt sich nach Westen hin zu einer Spitze, und ich durchfuhr Kentucky fast an seiner schmalsten Stelle. Zwischen der nördlichen und der südlichen Grenze lagen ganze vierzig Meilen. Für amerikanische Verhältnisse dauerte es also nicht länger als einen Augenblick, und schon war ich

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