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Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Titel: Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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in Tennessee. Man durchquert nicht alle Tage einen Staat in weniger als einer Stunde. Tennessee würde mich nicht viel länger aufhalten. Die Form dieses Staates erinnert an ein in die Länge gezogenes Trapez. Während sich Tennessee über mehr als 500 Meilen von Ost nach West erstreckt, misst der Staat von Nord nach Süd gerade 100 Meilen. Landschaftlich unterscheidet er sich kaum von Kentucky und Illinois – von Flüssen durchzogenes, hügeliges Acker- und Weideland, bevölkert von religiösen Fanatikern. Als ich vor einem Burger King in Jackson aus dem Wagen stieg, war ich überrascht, wie warm es war. Achtunddreißig Grad laut Anzeigetafel einer Drive-in Bank gegenüber, gute zwanzig Grad wärmer als am Morgen in Carbondale. Ein Schild im Hof einer Kirche nebenan bestätigte mir, dass ich den Bible Belt längst noch nicht verlassen hatte. CHRISTUS IST DIE ANTWORT stand darauf zu lesen. (Die Frage ist natürlich, was sie sagen, wenn sie sich mit dem Hammer auf den Daumen schlagen.) Ich betrat den Burger King. Das Mädchen am Tresen fragte: »Kin I hep yew?«, was wohl so viel bedeuten sollte wie »Kann ich Ihnen helfen?« Ich war in einem anderen Land.

6
    Südlich von Grand Junction, Tennessee, überquerte ich die Staatsgrenze von Mississippi. Am Straßenrand verkündete ein Schild WILLKOMMEN IM STAATE MISSISSIPPI. HIER WIRD GEZIELT GESCHOSSEN. Das Schild stand nicht wirklich da. Ich habe es mir nur ausgedacht. Dies war erst meine zweite Reise in den Tiefen Süden, und ich hatte ein ungutes Gefühl. Es ist sicher kein Zufall, dass alle namhaften Filme über den Süden – Easy Rider, In der Hitze der Nacht, Brubaker – die Südstaatler als brutale, zum Inzest neigende, rassistische Rednecks darstellen. Der Süden ist wirklich ein anderes Land. Es herrschen andere Gesetze. Vor Jahren, in den Zeiten des Vietnamkriegs, unternahm ich mit zwei Freunden eine Ferienreise nach Florida. Wir hatten lange Haare. Um den Weg abzukürzen, fuhren wir über die Nebenstraßen von Georgia und hielten eines späten Nachmittags in einem traurigen Nest, um in einem Lokal eine Kleinigkeit zu essen. Als wir uns an den Tresen setzten, wurde alles still im Raum. Vierzehn Menschen hörten abrupt auf zu essen, vergaßen das Kauen und starrten uns an. Es war so still, dass man einen Fliegenfurz hätte hören können. Ein Raum voller rotbackiger good ole Boys in Latzhosen – alle richteten schweigend ihre Blicke auf uns und überlegten, ob ihre Schrotflinten geladen seien. Es war beängstigend. Einige unter ihnen hatten offensichtlich noch nie einen langhaarigen Nordstaatler in natura gesehen, einen Bolschewikenhippie mit Collegebildung, einen dieser Niggerfreunde. Für sie hier draußen, am Ende der Welt, waren wir echte Kuriosa und gleichzeitig etwas unsagbar
Abscheuerregendes. Es war eine sonderbare Erfahrung, einen solchen Hass von Menschen zu spüren, die uns überhaupt nicht kannten. Ich kann mich daran erinnern, gedacht zu haben, dass unsere Eltern nicht die leiseste Ahnung hatten, wo wir uns gerade aufhielten. Alles, was sie wussten, war, dass wir uns irgendwo in der Weite zwischen Des Moines und den Florida Keys befanden. Würde uns etwas zustoßen, so würde uns niemand finden. Ich stellte mir vor, wie sich meine Familie jahraus, jahrein im Wohnzimmer versammelte, und hörte meine Mutter sagen: »Ich frage mich, wo Billy und seine Freunde wohl stecken. Ist es nicht merkwürdig, dass wir noch keine Postkarte bekommen haben? Möchte vielleicht jemand ein Sandwich?«
    Solche Dinge passierten da unten tatsächlich. Erst fünf Jahre vor unserem Erlebnis hatte man in Mississippi drei Freiheitskämpfer umgebracht: den einundzwanzigjährigen Schwarzen James Chaney aus Mississippi und zwei weiße Jungs aus New York, Andrew Goodman, zwanzig, und Michael Schwerner, zwanzig. Ich nenne ihre Namen, um sie vor dem Vergessen zu bewahren. Die drei wurden wegen überhöhter Geschwindigkeit festgenommen, in das Neshoba-County-Gefängnis in Philadelphia, Mississippi, gesteckt und nicht mehr gesehen – bis man Wochen später ihre Leichen aus den Sümpfen zog. Es waren Kinder. Die Polizei hatte sie dem wartenden Mob vorgeworfen, der sie fortschleppte und auf grausamste Weise massakrierte. Den verantwortlichen Sheriff, einen grinsenden, tabakkauenden Fettwanst namens Lawrence Rainey, stellte man wegen Fahrlässigkeit vor Gericht. Des Mordes wurde niemand angeklagt. Das war für mich der Süden und wird es immer bleiben.
    Ich folgte dem Highway 7 in

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