Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
sagte sie. »Lassen Sie sich Zeit.« Sie verschwand aus meinem Blickfeld, zählte bis vier und kam zurück.
»Möchten Sie nun bestellen?«, fragte sie.
»Tut mir Leid«, entgegnete ich. »Ich brauche wirklich noch ein Weilchen.«
»O.k.« Sie entfernte sich und mochte nun wohl bis zwanzig gezählt haben. Als sie wieder an meinem Tisch erschien, stand ich jedenfalls noch immer entgeistert vor den Hunderten von Möglichkeiten, die sich mir als Gast von Pizza Hut eröffneten.
»Sie sind ’n bisschen langsam, stimmt’s?«, bemerkte sie verschmitzt.
Ich wurde verlegen. »Tut mir Leid. Ich bin nicht mehr daran gewöhnt. Ich... ich komme gerade aus dem Gefängnis.«
Ihre Augen weiteten sich. »Wirklich?«
»Ja. Ich habe eine Kellnerin umgebracht, die mich ständig gehetzt hat.«
Mit unsicherem Lächeln zog sie sich zurück und ließ mir jede Menge Zeit, um eine Wahl zu treffen. „Ich entschied mich schließlich für eine Pepperoni-Pizza mittlerer Größe mit Zwiebeln
und Pilzen als zusätzliche Zutaten – eine Kombination, die ich ohne zu zögern empfehlen kann.
Um den gelungenen Abend abzurunden, kletterte ich anschließend zu einem benachbarten K-Mart hinüber. K-Marts sind eine Kette von Discountwarenhäusern und ausgesprochen deprimierende Orte. Sogar Mutter Teresa würde hier ihren Lebensmut verlieren. Es liegt nicht an den K-Marts selbst. Es liegt an den Kunden. In K-Marts wimmelt es von Leuten, die ihren Kindern Namen geben, die sich reimen: Lonnie, Donnie, Ronnie, Connie, Bonnie. Diese Art von Leuten, die eine Verabredung absagen, um The Munsters im Fernsehen zu sehen. Jede Frau, die hier einkauft, hat mindestens vier Kinder, und alle sehen sie aus, als hätten sie einen anderen Vater. Die Frau wiegt grundsätzlich 250 Pfund, versohlt grundsätzlich eines ihrer Kinder und brüllt: »Wenn du dich nicht anständig benimmst, Ronnie, nehme ich dich nie wieder mit.« Als fände Ronnie es so bedauerlich, nie wieder einen K-Mart von innen sehen zu müssen. K-Marts sind die richtige Adresse für jemanden, der für unter 35 Dollar eine Stereoanlage erwerben möchte und dafür in Kauf nimmt, dass sich die Musik anhört, als würde die Band in einem Briefkasten spielen, den man in einem entlegenen See versenkt hat. Wer in einem K-Mart einkauft, weiß, dass er nicht mehr viel tiefer sinken kann. Mein Vater mochte K-Marts.
Ich ging hinein und sah mich um, kaufte ein paar Einwegrasierer, ein Taschennotizbuch und bei der Gelegenheit auch eine Tüte Reese’s Peanut Butter Cups zum günstigen Preis von nur 1,29 Dollar und ging wieder hinaus. Es war 19.30 Uhr. Über dem Parkplatz zogen gerade die Sterne auf. Mit einer kleinen Plastiktüte voller jämmerlicher Habseligkeiten stand ich mutterseelenallein in der langweiligsten Stadt Amerikas und tat mir selber Leid. Ich kletterte über eine Mauer, rannte über den Highway zu einem dieser Scheißminisupermärkte, besorgte mir einen Sixpack Pabst Blue Ribbon Beer und zog mich in
mein Zimmer zurück, wo ich das Kabelfernsehen einschaltete, Bier trank, Reese’s Peanut Butter Cups aß, mir die Hände am Laken abwischte und mich mit dem Gedanken zu trösten versuchte, dass es in Carbondale, Illinois, nicht besser und nicht schlechter war als anderswo.
5
Am nächsten Morgen fuhr ich wieder auf den Highway 127 South. Auf meiner Karte war dieser Teil der Straße als landschaftlich schöne Strecke verzeichnet. In diesem Fall sollte die Karte Recht behalten. Die Straße führte durch eine reizvolle, flaschengrüne Hügellandschaft, durchsetzt von offenbar gut gehenden Farmen, von Eichen- und Buchenwäldern – schöner als alles, was ich je von Illinois gesehen hatte. Obwohl ich Richtung Süden fuhr, hatte der Herbst das Laub der Bäume hier schon stärker verfärbt als anderswo. Die Hänge leuchteten in Senfgelb, in mattem Orange und blassem Grün. Ein bezaubernder Anblick, dem der klare, sonnige Tag eine angenehme Frische verlieh. Hier, zwischen diesen Hügeln, könnte ich leben, dachte ich.
Es dauerte eine Weile, bis ich merkte, was in dieser Landschaft fehlte. Es waren die Reklametafeln. In meiner Kindheit standen neun mal viereinhalb Meter große Reklametafeln in den Feldern entlang jeder Straße. In Staaten wie Iowa und Kansas waren sie so ungefähr das Einzige, das dem Auge Abwechslung bot. Während einer dieser albernen Kampagnen, für die sich Präsidentengattinnen zu engagieren pflegen, ließ Lady Bird Johnson in den sechziger Jahren im Rahmen eines
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