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Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Titel: Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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mehr geben. Tatsächlich würde die Straße nach neunzehn Meilen an einer einsamen, unbeschilderten Kreuzung enden, und Dad würde sich verfahren. Hatten wir die Spukhöhlen dann schließlich doch irgendwie gefunden, würden sie sich als völlig heruntergekommen und absolut uninteressant erweisen. Die feuchten, kaum beleuchteten und nach Pferdekadavern stinkenden Höhlen waren so groß wie eine Garage, und die Stalaktiten und Stalagmiten hatten nicht die geringste Ähnlichkeit mit Hexenhäusern und Caspar, dem Geist. Sie sahen eher aus wie – na ja, wie Stalaktiten und Stalagmiten. Es war ein riesengroßer Reinfall. Um uns über die Enttäuschung hinwegzutrösten, gab es nur eine Möglichkeit: Dad musste jedem von uns im angrenzenden Souvenirladen ein Bowie-Messer aus Gummi und eine Tüte mit Plastikdinosauriern kaufen. Meine Schwester und ich warfen uns zu Boden und stießen weinerliche Klagelaute aus, um ihn daran zu erinnern, welch einen Schaden übermächtiger Schmerz bei einem Kind anrichten kann, wenn man nicht sofort etwas dagegen unternimmt.
    Als die Sonne über dem braunen, flachen Oklahoma unterging und Dad, um Stunden hinter seinen Zeitplan zurückgeworfen, sich mit der schier unlösbaren Aufgabe herumschlug, ein Zimmer für die Nacht zu finden (wobei er tatkräftig von meiner Mutter unterstützt wurde, die die Karten falsch las und fast jedes näher kommende Gebäude als potenzielles Motel identifizierte), vertrieben wir Kinder uns die Zeit mit geräuschvollen, grauenhaften Messerstechereien auf dem Rücksitz, die wir von Zeit zu Zeit unterbrachen, um zu heulen und von erlittenen Verletzungen zu berichten oder über Hunger, Langeweile und volle Blasen zu klagen. Es war die Hölle. – Heute säumen kaum noch Reklametafeln die Highways. Welch ein schmerzlicher Verlust.
    Ich nahm Kurs auf Cairo, das man hier Kay-ro ausspricht. Ich weiß nicht, warum. Im Süden und im Mittleren Westen hört man das häufig. In Kentucky sprechen sie Athens wie AY-thens
und Versailles wie Vur-SAYLES aus. Bolivar, Missouri, ist BAW-liv-er. Madrid, Iowa, ist MAD-rid. Ich weiß nicht, ob die Leute die Namen ihrer Städte so aussprechen, weil sie rückständig und ungebildet sind und es nicht besser wissen, oder ob sie es besser wissen, sich aber nicht darum kümmern, dass alle Welt denkt, sie seien rückständig und ungebildet. Auf Fragen dieser Art wird man von den Betreffenden selbst wohl kaum eine Antwort erhalten. Trotzdem fragte ich an einer Tankstelle in Cairo den alten Mann, der den Tank meines Wagens füllte, warum sie hier den Namen ihrer Stadt so ungewöhnlich aussprachen.
    »Weil das der Name ist«, erklärte er mir, als hätte er es mit einem Idioten zu tun.
    »Aber das Kairo in Ägypten wird Kei-ro ausgesprochen.«
    »Das habe ich auch gehört«, stimmte der Mann zu.
    »Und die meisten Leute denken an Kei-ro, wenn sie den Namen lesen, oder?«
    »Nicht in Kay-ro«, sagte er und wurde ein wenig heftig.
    Da es sinnlos erschien, dieses Gespräch fortzusetzen, beließ ich es dabei. Ich weiß bis heute nicht, warum die Leute ihr Cairo wie Kay-ro aussprechen. Ebenso rätselhaft ist mir, wie Bürger eines freien Landes sich dazu entschließen können, in einem solchen Kaff zu leben, wie immer man seinen Namen auch ausspricht. Cairo liegt an der Stelle, an der der Ohio River, selbst eine der bedeutenden Arterien des Landes, in den Mississippi River mündet und dessen ohnehin imposante Breite verdoppelt. Man möchte meinen, dass am Zusammenfluss zweier so gewaltiger Flüsse eine ebenso gewaltige Stadt entstehen müsse, doch Cairo ist lediglich ein mittelloses Städtchen mit gerade mal 6000 Einwohnern. Verfallende Häuser und Mietskasernen, die nie einen Anstrich gesehen hatten, säumten die Zufahrtsstraße, und auf den Veranden saßen alte schwarze Männer in morschen Sofas oder Schaukelstühlen und warteten auf den Tod oder das Abendessen, je nachdem, was sie zuerst ereilte.
    Das mit den Schwarzen überraschte mich. Mietskasernen
und von Schwarzen bevölkerte Veranden findet man im Mittleren Westen im Allgemeinen nur in Großstädten wie Chicago und Detroit. Doch dann wurde mir klar, dass ich eigentlich schon nicht mehr im Mittleren Westen war. Die Mundart des südlichen Illinois hat mehr mit dem Dialekt des Südens gemein als mit dem des Mittleren Westens. Ich befand mich schon fast auf der Höhe von Nashville. Mississippi war ganze 160 Meilen entfernt. Und von Kentucky trennte mich nur noch der Fluss, den ich nun auf einer

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