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Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Titel: Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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und plauderten. Auch sie starrten mir nach, als ich vorüberfuhr. Sneedville liegt so weit abseits des Geschehens und ist ein so unmögliches Reiseziel, dass das Auto eines Fremden dort Aufsehen erregt.
    Viel zu sehen gab es nicht: das Gerichtsgebäude, eine Baptistenkirche, ein paar kastenförmige Häuser, eine Tankstelle. Da
die Tankstelle geöffnet hatte, fuhr ich an die Zapfsäule. Genau genommen brauchte ich noch kein Benzin, wusste aber nicht, wann ich wieder an einer Tankstelle vorbeikommen würde. Das Gesicht des Tankwarts war von Unmengen fleischiger Warzen übersät. Sie wucherten wie junge Champignons. Er sah aus, als wäre er das Produkt eines gentechnischen Experiments, das auf furchtbare Weise schief gegangen war. Er fragte mich, welches Benzin ich wünsche, sprach ansonsten aber kein Wort. Er äußerte sich nicht einmal zu der Tatsache, dass ich von weither kam. Zum ersten Mal während dieser Reise stand ich an einer Tankstelle, ohne dass mich der Tankwart mit gewinnendem Lächeln fragte: »Sie sind aber weit weg von zu Hause, arentcha? « oder: »Was führt Sie denn aus Iowa in unsere Gegend?« (In der Hoffnung auf ein paar zusätzliche Green Stamps antwortete ich dann immer, ich sei auf dem Weg nach Osten, um mich dort einer unerlässlichen Herzoperation zu unterziehen.) Höchstwahrscheinlich hatte der Mann in diesem Jahr außer mir noch keinen Menschen gesehen, der nicht aus Tennessee stammte. Dennoch schien ihn nicht im Geringsten zu interessieren, was mich in diese Gegend führte. Das fand ich merkwürdig. Ich sagte (meine Worte überschlugen sich förmlich): »Entschuldigen Sie, aber habe ich nicht irgendwo gelesen, dass in dieser Gegend Menschen leben, die sich Melungeons nennen?«
    Er antwortete nicht. Schweigend sah er zu, wie sich die Benzinuhr drehte. Ich nahm an, er hätte mich nicht gehört, und wiederholte: »Ich sagte, entschuldigen Sie, aber habe ich nicht gehört, dass in dieser Gegend –«
    »Weiß ich nich«, fiel er mir abrupt ins Wort, den Blick noch immer auf die Benzinuhr gerichtet. Dann sah er mich an. »Davon weiß ich nichts. Soll ich das Öl nachsehen?«
    Von der Frage überrascht, zögerte ich. »Nein danke.«
    »Das macht elf Dollar.« Ohne ein Wort des Dankes nahm er mir das Geld ab und entfernte sich. Ich war sprachlos. Eigentlich weiß ich nicht einmal, warum. Durch das Fenster konnte ich
sehen, wie er den Telefonhörer abnahm und telefonierte. Während er das tat, blickte er zu mir hinüber. Plötzlich war ich hellwach. Was, wenn er die Polizei holte, um mich zu erschießen? Im Davonbrausen hinterließ ich auf seiner Auffahrt eine kurze Reifenspur – was einem mit einem Chevette nicht alle Tage gelingt. Ich trat aufs Gaspedal, bis die Kolben quietschten, und verließ mit der halsbrecherischen Geschwindigkeit von siebenundzwanzig Meilen pro Stunde die Stadt. Nach ungefähr einer Meile mäßigte ich das Tempo, zum einen, weil die Straße fast senkrecht bergauf führte und der Wagen nicht schneller konnte – in einer Schrecksekunde glaubte ich, er würde rückwärts den Berg hinabrollen – und zum anderen, um mich zur Ruhe zu zwingen. Der Typ hatte vermutlich nur seine Frau angerufen, um sie daran zu erinnern, ihm die Warzensalbe aus der Apotheke mitzubringen. Und selbst wenn er die Polizei angerufen und einen Fremden gemeldet haben sollte, der durch unverschämte Fragen aufgefallen war –, was konnten die schon gegen mich unternehmen? Ich befand mich in einem freien Land und hatte gegen kein Gesetz verstoßen. Ich hatte eine unschuldige Frage gestellt, und zwar höflich. Wie könnte ich damit jemanden beleidigt haben? Es war offensichtlich albern, sich bedroht zu fühlen. Trotzdem ertappte ich mich immer wieder dabei, dass ich in den Rückspiegel schaute und halb damit rechnete, hinter mir eine Armee von Polizeiwagen und Scharen von Freiwilligen der Bürgerwehr in Pick-up-Trucks am Berg auftauchen zu sehen. Umsichtigerweise erhöhte ich meine Geschwindigkeit von elf auf dreizehn Meilen pro Stunde.
    Hoch oben auf dem Berg sah ich die ersten Hütten. Sie standen etwas abseits der Straße auf einer Lichtung. Ich blinzelte angestrengt durch die Bäume und hoffte, ein oder zwei Melungeons zu entdecken. Doch die wenigen Menschen, die mir begegneten, waren weiß. Während ich an ihnen vorbeirumpelte, starrten sie mich eigenartig überrascht an, so, wie man einen Mann anstarrt, der auf einem Vogel Strauß reitet. Die wenigsten
erwiderten meinen Gruß. Nur ein oder zwei

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