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Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Titel: Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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vor. Es war weder eine Nachricht zu entdecken, wohin die Siedler gezogen waren, noch gab es Anzeichen, die auf einen Kampf schließen ließen. Nur ein Wort war geheimnisvoll in eine Mauer geritzt: »Croatoan« – der Name einer Nachbarinsel, auf der den Weißen freundlich gesinnte Indianer lebten. Vor Ort stellte sich jedoch heraus, dass die Siedler nie auf der Insel angekommen waren. Wohin hatte es sie verschlagen? Gingen sie freiwillig oder hatten Indianer sie weggezaubert? Ihr Verschwinden ist eines der großen Rätsel der Kolonialgeschichte.
    Ich erwähne das hier, weil eine Theorie besagt, die Siedler wären landeinwärts gezogen und hätten sich in den Bergen von Appalachia niedergelassen. Warum sie das getan haben mochten, vermag jedoch niemand zu sagen. Europäische Forscher,
die fünfzig Jahre später in Tennessee unterwegs waren, erfuhren von Cherokee-Indianern, dass in den Bergen schon seit vielen Jahren eine Gruppe Bleichgesichter leben würde, Menschen, die Stoffe am Körper und lange Bärte trügen. Zeitgenössischen Berichten zufolge ließen diese Leute vor jeder Mahlzeit eine Glocke läuten und hatten die sonderbare Angewohnheit, ihre Köpfe zu senken und mit leiser Stimme vor sich hin zu murmeln, bevor sie zu essen begannen.
    Niemand hat diese geheimnisvolle Gemeinde je gefunden. In einer entlegenen, unbeachteten Region der Appalachen, hoch oben in den Clinch Mountains, über der Stadt Sneedville im Nordosten Tennessees, lebt allerdings seit Menschengedenken ein seltsamer Volksstamm, der sich Melungeon nennt. Die Melungeons (die Herkunft dieses Namens ist vollkommen unbekannt) weisen fast alle Kennzeichen von Europäern auf – blaue Augen, helles Haar, eine hoch gewachsene Statur –, haben jedoch eine dunkle, beinahe negroide Hautfarbe, die eindeutig nicht auf eine europäische Abstammung schließen lässt. Sie tragen englische Familiennamen – Brogan, Collins, Mullin aber niemand kennt ihre Herkunft, nicht einmal sie selbst. Ihre Vergangenheit liegt ebenso im Dunkel der Geschichte wie der Verbleib der Siedler von Roanoke Island. Tatsächlich vermutet man, sie könnten die verschwundenen Siedler von Roanoke sein.
    Ich erfuhr von den Melungeons durch Peter Dunn, einen Kollegen beim The Independent in London. Als er hörte, dass ich eine Reise in diesen Teil der Welt plante, suchte er mir freundlicherweise einen Artikel heraus, den er vor einigen Jahren für das Sunday Times Magazine geschrieben hatte. Der Artikel war mit bemerkenswerten Fotos von Melungeons illustriert. Diese Menschen zu beschreiben, ist beinahe unmöglich. Auf den Bildern waren schlicht und einfach Weiße mit schwarzer Hautfarbe zu sehen. Ein, gelinde gesagt, verblüffender Anblick. Auf Grund ihres Äußeren sind sie seit langem Ausgestoßene im eigenen
Land und leben in armseligen Hütten in den Bergen der Region Snake Hollow. Im Hancock County bedeutet »Melungeon« so viel wie »Nigger«. Bei den Bewohnern der Täler, ihrerseits im Allgemeinen arm und rückständig, gelten sie als absonderlich und verabscheuenswert. Folglich ziehen die Melungeons es vor, unter sich zu bleiben, und verlassen die Berge nur sehr selten, um sich mit Vorräten einzudecken. Sie mögen keine Außenseiter. Das haben sie mit den Menschen in den Tälern gemein. Peter Dunn erzählte mir, er und der Fotograf, der ihn begleitete, wären bei ihrem Besuch mit einem Empfang bedacht worden, der von gemäßigter Feindseligkeit bis zu unverhohlenen Einschüchterungsversuchen reichte. Für ihn war es ein ausgesprochen unangenehmer Auftrag. Wenige Monate später wurde in der Nähe von Sneedville ein Reporter des Time Magazine erschossen, weil er zu viele Fragen gestellt hatte.
    Nun können Sie sich vielleicht vorstellen, welch ein ungutes Gefühl mich überkam, während ich dem Tennessee Highway 31 durch die Niederungen des sich windenden Clinch River folgte, vorbei an ärmlichen Tabakfarmen, auf dem Weg nach Sneedville. Das Hancock County ist der siebtärmste Bezirk der Nation, und so sah er auch aus. Abfall trieb in den Gräben, und die meisten Farmen waren einfach und schmucklos. In jeder Auffahrt stand ein Pick-up Truck mit einer Gewehrhalterung an der Heckscheibe, und wenn sich Menschen in den Gärten befanden, so unterbrachen sie, was immer sie gerade taten, und beobachteten, wie ich an ihnen vorüberfuhr. Ich erreichte Sneedville am späten Nachmittag. Es dämmerte fast. Vor dem Gebäude des Bezirksgerichts von Hancock hockten Teenager auf Pick-up-Trucks

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