Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
Passanten winkten mir auf ihre ganz eigene, ökonomische Art zu, indem sie kurz die Hand hoben und mit den Fingern zuckten.
Dies war das Land der Hinterwäldler. Viele Hütten sahen aus, als wären sie Li’l Abner entsprungen. Sie hatten durchhängende Veranden und schiefe Schornsteine. Einige waren verlassen. Andere schienen selbstgebaut zu sein. Das Holz für ihre ausladenden Anbauten hatten sich die Erbauer aller Wahrscheinlichkeit nach aus den Wäldern besorgt. Die Leute hier in den Bergen brannten ihren Whisky noch immer schwarz. Doch heutzutage ist Marihuana das große Geschäft, ob Sie’s glauben oder nicht. Irgendwo habe ich gelesen, dass sich ganze Bergdörfer zusammenschließen und mit ein paar Hektar bepflanzten Landes in einer abgelegenen Bodensenke bis zu 100 000 Dollar im Monat verdienen. Grund genug, um in dieser Gegend kein neugieriger Fremder zu sein, mehr noch als die Sache mit den Melungeons.
Obwohl ich mich stetig bergauf bewegte, waren die Wälder ringsum so dicht, dass ich von der Landschaft nichts zu sehen bekam. Auf dem Gipfel bot sich jedoch schließlich eine atemberaubende Aussicht über das Tal auf der anderen Seite. Es war, als hätte ich den höchsten Punkt der Erde erklommen – wie der Blick aus einem Flugzeug. Steile, bewaldete Berge mit saftigen Wiesen an ihren Hängen erstreckten sich bis zum Horizont, wo farbenprächtig die Sonne unterging. Vor mir schlängelte sich die Straße steil in ein hügeliges Tal hinab; in dem Farmen entlang den Ufern eines trägen Flusses verstreut lagen. Ein so vollkommenes Bild hatte ich noch nie gesehen. In diese Schönheit versunken, fuhr ich durch das weiche Licht der Abenddämmerung. Das Paradoxe war, dass am Straßenrand ausnahmslos schäbige Hütten standen. Ich befand mich im Herzen von Appalachia – eine Region, die für ihre Armut so berüchtigt ist wie kaum eine andere in Amerika –, und das Land war unsagbar schön. Eigenartig, dass Geschäftsleute in den nur wenige Autostunden entfernten
Städten an der Ostküste bisher nicht damit begonnen hatten, eine Region von so überwältigender Schönheit wirtschaftlich zu erschließen und die Täler mit rustikalen Wochenendhäusern, Country Clubs und schicken Restaurants zu füllen.
Ebenso eigenartig war, in dieser Armut weiße Menschen leben zu sehen. Es gehört schon allerhand dazu, in Amerika weiß und arm zu sein. Natürlich handelte es sich hier um amerikanische Armut, die Armut der Weißen, die nicht mit der Armut anderswo zu vergleichen ist. Sie hatte selbst mit der Armut von Tuskegee wenig gemein. Zyniker behaupten, Appalachia hätte im Brennpunkt des 1964 von Lyndon Johnson geführten »Krieges gegen die Armut« gestanden, nicht weil es so mittellos, sondern weil es so weiß war. Aus einer der Öffentlichkeit kaum bekannten Untersuchung aus jener Zeit geht hervor, dass vierzig Prozent der ärmsten Menschen in dieser Region ein Auto besaßen, ein Drittel davon einen Neuwagen. 1964 war mein späterer Schwiegervater in England, wie die meisten Menschen dort drüben, noch Jahre davon entfernt, ein eigenes Auto zu besitzen, und bis heute nennt er keinen Neuwagen sein Eigen. Dennoch käme niemand auf die Idee, ihn als arm zu bezeichnen und ihm zu Weihnachten einen Sack Mehl oder Strickwolle zu schicken. Ich muss jedoch zugeben, dass die Hütten um mich herum für amerikanische Verhältnisse ausgesprochen bescheiden wirkten. In ihren Gärten standen keine Satellitenschüsseln und keine Weber Grills. Auf keiner Auffahrt sah ich einen Kombiwagen. Und ich wette, die armen Teufel hatten auch keine Mikrowellenherde in ihren Küchen stehen. Für amerikanische Maßstäbe sind das verdammt unwürdige Lebensverhältnisse.
11
Ich fuhr durch eine Landschaft aus Weingummibergen, hügeligen Straßen und gepflegten Farmen. Über den Himmel zogen Wolken wie Wattebäusche, Wolken, wie man sie auf Gemälden sieht, die Schiffe auf hoher See darstellen. Die Städte hatten sonderbare, interessante Namen: Snowflake, Fancy Gap, Horse Pasture, Meadows of Dan, Charity. Virginia – so weit das Auge reichte. Der Staat schien kein Ende nehmen zu wollen. Er misst annähernd 400 Meilen in seiner Breite, doch durch die zahllosen Windungen der Straße verlängerte sich die Strecke wohl um mindestens 100 Meilen. Wann immer ich auf die Karte sah, schien ich kaum von der Stelle gekommen zu sein. Von Zeit zu Zeit kündigte ein Schild am Straßenrand eine historische Gedenktafel an. Ich fuhr grundsätzlich daran vorbei. Von
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