Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
mit dem Schmutz der Gettos besudeln. Trotzdem landete ich unwillkürlich in einem der ärmsten Stadtviertel, als ich den Freeway auf der Suche nach einer
Tankstelle verlassen musste. Bevor ich etwas dagegen unternehmen konnte, fand ich mich in einem Netz aus Einbahnstraßen wieder, die mich unentrinnbar in das elendigste und gefährlichste Viertel führten, das ich je gesehen hatte. Vielleicht befand ich mich in demselben Getto, durch das wir vor vielen Jahren gefahren waren. Zumindest sahen die Sandsteinhäuser sehr ähnlich aus, doch der Verfall hatte verheerend um sich gegriffen. In dem Getto meiner Kindheit herrschte trotz all der Armut eine Atmosphäre wie beim Straßenkarneval. Die Leute trugen farbenfrohe Kleidung und schienen ihren Spaß zu haben. Diese Gegend war dagegen nichts als trostlos und gefährlich. Die Szenerie erinnerte an ein Kriegsgebiet. Schrottautos, alte Kühlschränke und ausgebrannte Sofas türmten sich, wo man auch hinsah. Die Abfalleimer waren so verbeult, als hätte man sie von den Dächern der Häuser auf die Straße geworfen. Tankstellen gab es dort nicht. (In einer Gegend wie dieser hätte ich sowieso nicht angehalten, nicht für eine Million Dollar.) Die meisten Ladenfassaden waren mit Sperrholz verbarrikadiert, und jedes feststehende Objekt hatte man mit Graffiti besprüht. Noch immer standen vereinzelt junge Leute an den Straßenecken oder saßen auf den Treppen der Häuser, doch sie wirkten teilnahmslos und kalt. Sie schienen mich nicht zu beachten. Dem Himmel sei Dank. In dieser Gegend waren die Leute fähig, für eine Schachtel Zigaretten einen Mord zu begehen – ein Gedanke, der mir bei meiner Suche nach dem Rückweg zum Freeway nicht aus dem Kopf ging. Als ich schließlich eine Auffahrt fand, pfiff ich eher durch den Schließmuskel als durch die Zähne.
Dieser Abstecher war für mich das unangenehmste Erlebnis seit Jahren. Wie schrecklich muss es erst sein, dort zu leben und täglich über diese Straßen gehen zu müssen. Wussten Sie, dass ein schwarzer Mann in einer amerikanischen Großstadt mit einer Wahrscheinlichkeit von eins zu neunzehn damit rechnen muss, umgebracht zu werden? Im Zweiten Weltkrieg lag das Risiko,
getötet zu werden, bei eins zu fünfzig. In New York City geschieht alle vier Stunden ein Mord. Dort sterben die meisten Menschen unter fünfunddreißig eines gewaltsamen Todes und dabei ist New York noch nicht einmal die mörderischste Stadt in Amerika. Mindestens acht andere Städte haben eine noch höhere Mordrate aufzuweisen. In Los Angeles werden allein auf Schulgeländen alljährlich mehr Menschen umgebracht als im gesamten Stadtgebiet von London. So ist es wohl kaum verwunderlich, dass für die Menschen in amerikanischen Großstädten Gewalt zu einem festen Bestandteil ihres Alltags geworden ist. Wie kann man sich nur daran gewöhnen?
Zu Beginn dieser Reise traf ich auf dem Weg nach Des Moines am O’Hare Airport in Chicago einen Freund, der beim St. Louis Post Dispatch arbeitet. Er erzählte mir, dass er in letzter Zeit viele Überstunden machen müsse, da sein Boss das Opfer eines Überfalls geworden war. Als der Boss spät an einem Samstagabend von der Arbeit nach Hause fuhr und an einer Ampel halten musste, öffnete sich plötzlich die Beifahrertür und ein mit einer Pistole bewaffneter Mann stieg ein. Der Straßenräuber zwang den Boss, ans Flussufer zu fahren, wo er ihm in den Kopf schoss und mit seinem Geld verschwand. Der Boss lag seit drei Wochen im Koma, und die Ärzte konnten nicht sagen, ob er überleben würde.
Mein Freund erzählte mir dies nicht etwa als unerhörte Geschichte, sondern schlicht und einfach um mir klar zu machen, warum er in letzter Zeit so verdammt hart arbeiten musste. Was seinen Boss betrifft, so schien er die Ansicht zu vertreten, dass, wer vergisst, seine Autotüren zu verriegeln, damit rechnen muss, von Zeit zu Zeit eine Kugel in den Kopf zu kriegen. Seine unbeteiligte Art war äußerst merkwürdig, scheint aber bei den Amerikanern von heute mehr und mehr die Regel zu sein. Und wieder fühlte ich mich fremd in diesem Land.
Ich fuhr nach Downtown und parkte unweit der City Hall. Ganz oben auf dem Gebäude steht eine Statue von William Penn. Die Statue ist das bekannteste Wahrzeichen von Downtown Philadelphia und überall in der Stadt sichtbar. Leider war sie von einem Baugerüst umgeben. Nachdem man sich jahrzehntelang nicht um sie gekümmert hatte, beschlossen die Stadtväter 1985, die Statue vor dem Verfall zu
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