Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
retten und sie zu renovieren. Also baute man rundherum ein Gerüst, das allerdings schon so kostenaufwendig war, dass für die eigentlichen Renovierungsarbeiten kein Geld übrig blieb. Heute, zwei Jahre später, stand das Gerüst noch immer, und kein Handschlag war getan. Ein verantwortlicher Ingenieur ließ vor kurzem ungeniert verlauten, dass das Gerüst selbst über kurz oder lang renovierungsbedürftig sein würde. So oder ähnlich funktioniert in dieser Stadt beinahe alles. Um Philadelphia ist es also nicht eben gut bestellt. Keine andere Stadt in Amerika huldigt mit einem solchen Enthusiasmus den Idealen der Korruption und der Inkompetenz. In Sachen Idiotie in der Stadtverwaltung ist Philadelphia eine Klasse für sich.
Ein Beispiel: 1985 verschanzte sich eine Sekte mit Namen Move in einem Mietshaus an der Westseite der Stadt. Nachdem Polizeichef und Bürgermeister gemeinsam die Möglichkeiten erwogen hatten, die ihnen offen standen, kamen sie zu dem Ergebnis, dieses Problem sei am intelligentesten zu lösen, indem man das Haus kurzerhand in die Luft sprengt. So einfach war das! Ihnen war auch bekannt, dass sich das Haus mitten in einem dicht besiedelten Teil der Stadt befand und dass sich Kinder darin aufhielten. Dessen ungeachtet ließen sie aus einem Hubschrauber eine Bombe darauf werfen, woraufhin ein Feuer ausbrach, das schnell außer Kontrolle geriet und den Großteil des Viertels in Schutt und Asche legte. Einundsechzig Häuser brannten nieder. Elf Menschen starben, darunter alle Kinder in dem besetzten Haus.
Wenn sie nicht unfähig sind, dann haben Philadelphias Beamte
eine ausgeprägte Vorliebe für die Korruption. Kaum war ich in der Stadt, schon hörte ich im Radio, dass man einen ehemaligen Stadtrat wegen versuchter Erpressung zu zehn Jahren und seinen persönlichen Berater zu acht Jahren Gefängnis verurteilt hatte. Der Richter nannte es einen groben Vertrauensbruch. Er musste es ja wissen. Schließlich forderte ein staatlicher Untersuchungsausschuss zur selben Zeit die Entlassung von neun seiner Kollegen in der Stadt, weil sie Schmiergelder der Dachdecker-Vereinigung angenommen hatten. Zwei dieser Richter standen bereits wegen Erpressung vor Gericht. Solche Vorgänge sind in Philadelphia an der Tagesordnung. Als ein Staatsbeamter namens Bud Dwyer einige Monate zuvor ebenfalls der Korruption beschuldigt wurde, berief er eine Pressekonferenz ein, zog einen Revolver aus der Tasche und schoss sich vor laufenden Kameras das Gehirn aus dem Kopf.
Dennoch, trotz all dieser Inkompetenz und Kriminalität ist Philadelphia eine sympathische Stadt. Anders als in Washington spürt man hier, dass man sich in einer Großstadt befindet. Hier gab es Wolkenkratzer, Dampf stieg aus den Straßenschächten, und an jeder Ecke stand ein Hot-Dog-Stand aus rostfreiem Stahl, hinter dem ein genervter Typ mit Baseballmütze von einem Fuß auf den anderen trat. Ich schlenderte zum Independence Square, der heute genau genommen Independence National Historical Park heißt, und betrachtete respektvoll all die geschichtsträchtigen Bauwerke. Das Hauptgebäude ist die Independence Hall, in der die Unabhängigkeitserklärung aufgesetzt und die Verfassung der Vereinigten Staaten ratifiziert worden war. Als ich 1960 zum ersten Mal vor diesem Gebäude stand, zog sich eine lange Schlange wartender Menschen bis weit vor den Eingang. Die Warteschlange war noch immer da. Sie schien sich während der vergangenen siebenundzwanzig Jahre nicht einen Meter von der Stelle bewegt zu haben.
Bei all meiner Hochachtung sowohl für die Verfassung als auch für die Unabhängigkeitserklärung war ich nicht geneigt,
mir hier den ganzen Nachmittag die Beine in den Bauch zu stehen. Stattdessen ging ich zum Visitors’ Centre. Die Visitors’ Centres der Nationalparks sind alle gleich. Sie bieten dem Besucher eine Reihe von gleichermaßen langweiligen und nichts sagenden Schaukästen, einen verschlossenen Raum, an dessen Tür eine Tafel verkündet, dass der nächste eintrittsfreie, zwölfminütige Einführungsfilm um 16.00 Uhr beginnt (kurz vor 16.00 Uhr erscheint jemand und ändert die Zeit auf 10.00 Uhr), sowie mehrere Regale voller Bücher und Informationsbroschüren mit Titeln wie Die Geschichte des Zinns und Das Gemüse im alten Philadelphia, die entschieden zu uninteressant sind, um sie durchzublättern, geschweige denn zu kaufen, und schließlich gibt es dort noch einen Trinkwasserbrunnen und die Toiletten. Von beiden letztgenannten Einrichtungen
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