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Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Titel: Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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Tidal Basin ergießt, bietet es einen betörenden Anblick. Ich muss wohl eine Stunde oder
mehr dort gesessen haben, vertieft in die Geräusche der Nacht. Ich lauschte dem rhythmischen Rauschen des Straßenverkehrs, den Sirenen und Autohupen. Und ich hörte, wie weit entfernt Menschen sangen und schrien und wie Menschen erschossen wurden.
    Ich hielt mich so lange dort auf, dass es für das Lincoln Memorial zu spät wurde. Also kam ich am nächsten Morgen wieder. Das Lincoln Memorial ist genau so, wie man es sich vorstellt. Er sitzt da in seinem hohen Sessel und sieht ungemein bedeutend und doch freundlich aus. Auf seinem Kopf saß eine Taube. Auf seinem Kopf sitzt immer eine Taube. Ob sie wohl glaubt, die vielen Menschen kämen Tag für Tag allein ihretwegen? Eine müßige Frage. Als ich anschließend wieder über die Mall schlenderte, fiel mir auf, dass noch mehr Barrikaden und Sicherheitsbeamte als am Vortag herumstanden. Sie hatten eine Straße durch die Mall abgesperrt, und ich entdeckte zwei Hubschrauber mit dem Emblem des Präsidenten an den Seiten sowie sieben Kanonen und die Musikkapelle des Marine Corps. Es war noch früh am Morgen. Schaulustige hatten sich noch keine eingefunden. Ich stellte mich an die Absperrung und wartete. Ich war der einzige Zuschauer, und keiner der Sicherheitsleute kümmerte sich um mich. Sie schienen mich nicht einmal zu bemerken.
    Ein paar Minuten später war die Luft von Sirenengeheul erfüllt. Ein Konvoi aus Limousinen und Motorrädern der Polizei tauchte auf und kam zum Stehen. Einer der Limousinen entstieg Nakasone in Begleitung anderer Japaner, alle in dunklen Anzügen, eskortiert von mehreren weniger namhaften Ariern aus dem State Département. Während die Kapelle eine flotte Melodie schmetterte, die ich nicht erkannte, standen die Männer höflich herum. Dann wurden einundzwanzig Salutschüsse abgefeuert, die allerdings nicht gerade in den Ohren dröhnten, sondern sich eher kläglich anhörten. Vermutlich hatte man die Kanonen mit einem geräuscharmen Schießpulver gefüllt, um
den Präsidenten im Weißen Haus gegenüber nicht zu wecken. Nachdem also der Befehlshaber sein »Auf die Plätze, fertig, los!« gebrüllt hatte, oder was immer er auch gebrüllt haben mag, erfolgten sieben kurze Puffs, woraufhin eine dichte Rauchwolke erst über unsere Köpfe, dann in einer langen Schwade langsam über den Park hinwegschwebte. Das Ganze wiederholte sich dreimal, da nur sieben Kanonen zur Verfügung standen. Dann winkte Nakasone freundlich der Menge – also mir – zu und rannte mit seinem Trupp zu den Hubschraubern des Präsidenten, deren Rotorblätter bereits kräftig Staub aufwirbelten. Kurz darauf hoben sie ab, neigten sich dem Washington Monument zu und waren verschwunden, und jeder der auf dem Erdboden Zurückgebliebenen steckte sich erleichtert eine Zigarette an.
    Wochen später erzählte ich in London von meinem privaten Zusammentreffen mit Nakasone, von der Musikkapelle des Marine Corps und den geräuschlosen Kanonen und auch, dass der Premierminister von Japan mir allein zugewinkt hatte. Die meisten meiner Zuhörer ließen mich eine Weile höflich reden und unterbrachen mich dann, um etwas in der Art wie »Hab ich dir schon erzählt, dass Mavis sich nächste Woche an den Füßen operieren lassen muss?« einzuwerfen. Die Engländer haben manchmal eine unglaublich niederschmetternde Art.

    Von Washington nahm ich die US 301 und folgte ihr, vorbei an Annapolis und der US Naval Academy, über eine lange, niedrige Brücke über die Chesapeake Bay ins östliche Maryland. Bis zum Bau der Brücke 1952 war das Land an der Ostseite der Bucht jahrhundertelang vom Rest der Welt abgeschnitten. Seit dem Ende ihrer Isolation befürchten die Einheimischen, Fremde würden auf die Halbinsel strömen und sie ruinieren. Doch auf mich machte das Land einen ziemlich unverdorbenen Eindruck, was meiner Meinung nach gerade den Fremden zu verdanken ist. Es sind immer die, die von auswärts kommen, die sich am heftigsten gegen die Errichtung von Einkaufszentren
und Kegelbahnen wehren, während die Einheimischen in ihrer einfältigen und arglosen Art diese Dinge für großartige Errungenschaften halten.
    Chestertown, das erste Städtchen von nennenswerter Größe an meinem Weg, bestätigte diese Theorie. Als Erstes sah ich eine Frau in einem pinkfarbenen Trainingsanzug, die auf einem Fahrrad mit einem Weidenkorb am Lenker an mir vorbeisauste. Nur Emigranten aus den Großstädten besitzen mit einem

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