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Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Titel: Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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ging ich ins Badezimmer im oberen Stockwerk und kam an einem der Kinderzimmer vorbei. Die Tür stand offen, und neben dem Bett brannte Licht. Überall lag Spielzeug herum. Es bedeckte den Boden und quoll aus Regalen und Holzkisten. Es sah aus wie in der Werkstatt des Weihnachtsmanns, doch es war lediglich ein typisches Kinderzimmer der amerikanischen Mittelklasse.
    Sie sollten einmal einen Blick in amerikanische Wandschränke werfen! Darin stapeln sich die Überreste einstiger Leidenschaften: Golfschläger, Tennisschläger, Fitnessgeräte, Tonbandgeräte, Taucherausrüstungen, Dunkelkammerausstattungen, Gegenstände, die ihren Besitzer einst begeistert hatten und dann durch andere, noch aufregendere Dinge ersetzt worden
waren. Das ist die große Versuchung Amerikas – die Menschen bekommen, was ihr Herz begehrt, und sie bekommen es sofort, ob es nun gut für sie ist oder nicht. Diese uferlose Selbstbefriedigung, diese konstante Erregung der niederen Instinkte hat etwas außerordentlich Besorgniserregendes. Darin liegt eine Ehrfurcht gebietende Verantwortungslosigkeit.
    Wollt ihr Milliarden weniger Steuern zahlen, selbst wenn dann das Bildungswesen vor die Hunde geht?
    »Oh, ja!«, schreien die Leute.
    Wollt ihr ein Fernsehprogramm, das Schwachsinnige zum Heulen bringt?
    »Ja, bitte!«
    Wollen wir uns in den wildesten Kaufrausch stürzen, den die Welt je gesehen hat?
    »Hört sich toll an! Wann geht’s los?«
    Die gesamte Weltwirtschaft basiert auf den Bedürfnissen von zwei Prozent der Erdbevölkerung. Würden die Amerikaner plötzlich aufhören, dem Konsum zu frönen, oder sollte eines Tages der Stauraum in ihren Wandschränken knapp werden, bräche eine Weltwirtschaftskrise nie da gewesenen Ausmaßes über uns herein. Das ist der reine Wahnsinn, wenn Sie mich fragen.
    Ich sollte darauf hinweisen, dass hier nicht von Hal und Lucia die Rede ist. Sie sind gute Leute und führen ein genügsames, verantwortungsbewusstes Leben. In ihren Wandschränken stapeln sich keine Taucherausrüstungen und kaum benutzte Tennisschläger. Dort türmen sich profanere Dinge wie Eimer und Gummistiefel, Ohrenschützer und Scheuerpulver. Ich weiß das so genau, weil ich mitten in der Nacht, als alles schlief, aus dem Bett gekrochen bin und mich ausgiebig darin umgesehen habe.

    Am Morgen brachte ich Hal in sein Büro in Downtown – ich korrigiere, in centre city. Die Fahrt durch den Fairmount Park war in der Morgensonne ebenso herrlich wie zuvor in der Abenddämmerung. In jeder Stadt sollte es einen Park wie diesen geben,
dachte ich. Unterwegs erzählte mir Hal einige interessante Dinge über Philadelphia. So erfuhr ich, dass die Stadt ein Prozent ihres gesamten Haushaltsetats für Kunst im öffentlichen Leben ausgab – mehr als jede andere amerikanische Stadt –, auf der anderen Seite aber eine Analphabetenquote von vierzig Prozent aufwies. Im Vorbeifahren zeigte er mir den palastartigen Bau des Philadelphia Museum of Art mitten im Fairmount Park. Das Museum hatte sich zur bedeutendsten Touristenattraktion der Stadt entwickelt, und zwar nicht etwa auf Grund seiner Sammlung von 500 000 Gemälden, sondern weil Sylvester Stallone in dem Film Rocky seine Treppen hinaufgestürmt war. Die Menschen strömten in Bussen herbei, betrachteten die Stufen und zogen wieder ab, ohne auch nur einen Fuß in das Innere des Museums gesetzt zu haben. Hal machte mich auch auf eine Talkshow im Radio aufmerksam, die von einem Mann namens Howard Stern geleitet wurde. Howard Stern, zu dessen Fangemeinde auch Hal gehörte, hatte ein ausgeprägtes Interesse für Sex und wandte sich mit gewinnender Direktheit an seine Gesprächspartner. »Guten Morgen, Marilyn«, sagte er beispielsweise zu einer Anruferin, »tragen Sie gerade ein Höschen?« Das, da waren wir uns einig, stellte fast alle morgendlichen Talkshows in den Schatten. Howard redete so atemberaubend offen mit seinen Anrufern, mit einer solchen Lüsternheit, wie ich es noch bei keinem amerikanischen Radiosender erlebt hatte.
    Leider verlor ich den Sender, kurz nachdem ich Hal abgesetzt hatte, und verbrachte den Rest des Vormittages damit, ihn zu suchen. Ohne Erfolg. Schließlich landete ich bei einem konkurrierenden Phone-in-Programm, in dem eine Frau zu Wort kam, die auf Würmer in den Gedärmen von Hunden spezialisiert war. Die Behandlung der befallenen Hunde bestand im Großen und Ganzen aus nichts anderem, als ihnen eine Tablette zu geben, die die Würmer abtötete, so dass ich mich nach wenigen

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