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Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Titel: Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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Weidenkorb bestückte Fahrräder. Die Einheimischen bevorzugen Subaru Pick-up-Trucks. In Chestertown schienen viele Rad fahrende Frauen zu leben. Offenbar waren sie es, die den Ort in ein mustergültiges Städtchen verwandelt hatten. Alles wirkte wie aus dem Ei gepellt. Die Gehsteige waren gepflastert und von Bäumen gesäumt, und mitten im Geschäftsviertel befand sich ein gepflegter Park. In der Bücherei herrschte reger Andrang, und sogar das Kino war noch in Betrieb. Alles an Chestertown war von beschaulichem Reiz. Kurzum; ein wirklich hübsches Städtchen, das meinem Amalgam sehr nahe kam.
    Ich fuhr weiter, durch flaches, sumpfiges Land, und ließ mich von der schlichten Schönheit der Chesapeake-Halbinsel bezaubern, vom weiten Himmel, den über das Land verstreuten Farmen und vergessenen kleinen Ortschaften. Auf dem Weg nach Philadelphia überquerte ich am späten Vormittag die Staatsgrenze von Delaware der vielleicht unbekannteste aller amerikanischen Staaten. Als ich einmal ein Mädchen aus Delaware traf, hatte ich nicht die leiseste Ahnung, worüber ich mit ihr reden sollte. Mir fiel nichts Besseres ein, als zu sagen: »Du kommst also aus Delaware? Wow!«, woraufhin sie sich schnell jemandem zuwandte, der wortgewandter war als ich und nebenbei auch besser aussah. Es machte mir Kummer, über einen der fünfzig Staaten rein gar nichts zu wissen, und das, nachdem ich zwanzig Jahre in diesem Land gelebt hatte und in den Genuss einer kostspieligen Schulausbildung gekommen war. Ich fragte mehrere Leute, ob sie jemals gehört hätten, dass im
Fernsehen der Staat Delaware erwähnt worden war, oder in der Zeitung einen ihn betreffenden Artikel gelesen hätten oder vielleicht ein Buch, dessen Handlung dort angesiedelt war. Alle verneinten und schienen daraufhin ebenfalls irgendwie bekümmert.
    Ich beschloss, mich sogleich über diesen Staat zu informieren, damit ich bei meiner nächsten Begegnung mit einem Mädchen aus Delaware mit einer geistreichen und treffenden Bemerkung Eindruck schinden konnte. Doch fast nirgends stand etwas über Delaware geschrieben. Selbst die Eintragung in der Encyclopaedia Britannica beschränkte sich auf ganze zwei Absätze und endete, wenn ich mich recht entsinne, mitten im Satz. Und das Komische war, dass ich, noch während ich durch diesen Staat fuhr, förmlich spürte, wie die Erinnerung daran verblasste. Es war wie mit diesen Zeichentafeln für Kinder, auf denen man das Bild ausradiert, indem man eine transparente Folie abhebt. Während ich Delaware durchquerte, schien sich hinter mir eine gigantische Folie von der Landschaft zu heben und jegliche Erinnerung daran auszulöschen. Wenn ich jetzt zurückblicke, kann ich mich lediglich vage an eine spärlich industrialisierte Landschaft sowie an mehrere Hinweisschilder nach Wilmington erinnern.
    Und schon hatte ich die Außenbezirke von Philadelphia erreicht. Diese Stadt, die der Welt unter anderem Sylvester Stallone und die Legionärskrankheit beschert hatte, erforderte nun meine ganze Aufmerksamkeit und verdrängte Delaware aus meinen Gedanken.

13
    In meiner Kindheit war Philadelphia die drittgrößte Stadt Amerikas. Ich weiß noch, wie wir an einem heißen Julisonntag durch nicht enden wollende Armengettos fuhren, an einem heruntergekommenen Häuserblock nach dem anderen vorbei. Schwarze Kinder spielten im Sprühregen der Hydranten, und an den Straßenecken oder auf den Treppen der Häuser vertrieben sich die Älteren die Zeit mit Nichtstun. In Rinnsteinen und Hauseingängen sammelte sich der Müll. Ganze Gebäude waren verfallen. Eine so armselige Gegend hatte ich noch nie gesehen. Es kam mir vor, als wären wir in einem anderen Land, in Haiti oder in Panama. Mein Dad pfiff unaufhörlich durch die Zähne, wie er es immer tat, wenn er sich unbehaglich fühlte. Er wies uns an, die Fenster zu schließen, woraufhin die Hitze im Auto unerträglich wurde. Wenn wir vor einer Ampel halten mussten, starrten uns die Leute mit versteinerter Miene an, und Dads Pfeifen wurde zunehmend unmelodischer. Er trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad herum und lächelte jeden auf der Straße entschuldigend an, als wollte er sagen »Sorry, aber wir sind nicht von hier.«
    Inzwischen hat sich natürlich vieles geändert. Philadelphia ist nicht mehr die drittgrößte Stadt Amerikas, sondern wurde in den sechziger Jahren von Los Angeles auf den vierten Platz verdrängt. Heute rauscht man über die Freeways ins Herz der Stadt und muss seine Reifen nicht mehr

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