Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
macht so ziemlich jeder Gebrauch, schließlich gibt es in einem Visitors’ Centre sonst nicht viel zu tun. Jeder Besucher jedes Nationalparks sucht das Visitors’ Centre des jeweiligen Parks auf, steht eine Weile dumm herum, nutzt die Gelegenheit zum Pinkeln, trinkt einen Schluck Wasser und geht wieder hinaus. Genau das tat auch ich.
Vom Visitors’ Centre schlenderte ich weiter, vorbei am Independence Mall zum Franklin Square. Dort wimmelte es von Pennern, von denen sich viele ulkigerweise einbildeten, ich würde ihnen bereitwillig fünfundzwanzig Cent von meinem eigenen Geld geben, ohne dafür eine Gegenleistung zu erwarten. Meinem Reiseführer entnahm ich, dass es auf dem Franklin Square »jede Menge interessante Dinge« zu sehen gibt – ein Museum, eine Buchbinderei, eine archäologische Ausstellung und »das einzige Postamt der Vereinigten Staaten, das nicht die Nationalflagge flattern lässt« (fragen Sie mich nicht, warum) –, doch ich war nicht bei der Sache, was vor allem an den Mitleid erregenden, ungewaschenen Pennern lag, die unentwegt an meinen Ärmeln zerrten. So eilte ich zurück in die reale Welt von Downtown Philadelphia.
Am späten Nachmittag suchte ich die Redaktion des Philadelphia
Inquirer auf, wo eine alte Freundin aus Des Moines, Lucia Herndon, arbeitete. In den Büros des Inquirer sah es aus wie in den Zeitungsredaktionen überall auf der Welt – schmuddelig, chaotisch, voller Kaffeetassen, in denen Zigarettenkippen wie tote Fische in einem verseuchten See herumschwammen. Beeindruckt stellte ich fest, dass Lucias Schreibtisch zu den chaotischsten im ganzen Raum gehörte. Das mochte zum Teil an ihrem rasanten Aufstieg beim Inquirer liegen. Mir ist bisher nur ein Journalist mit einem aufgeräumten Schreibtisch begegnet, und der wurde eines Tages verhaftet, weil er kleine Jungs belästigt hatte. Halten Sie davon, was Sie wollen, aber denken Sie daran, wenn Sie das nächste Mal von jemandem mit einem aufgeräumten Schreibtisch zu einem Campingurlaub eingeladen werden.
In meinem Wagen fuhren wir nach Mt. Airy, das Viertel, in dem Lucia seit ungefähr einem Jahr zusammen mit einem anderen alten Freund von mir lebte – mit ihrem ebenfalls aus Des Moines stammenden Ehemann Hal. Wie praktisch für mich (und natürlich auch für sie)! Den ganzen Tag über hatte mich zwischendurch immer wieder die Frage beschäftigt, warum es Hal und Lucia in Philadelphia so gut gefiel. Nun begann ich zu verstehen. Die Straße nach Mt. Airy führte durch den schönsten städtischen Park, den ich jemals gesehen habe. Der Fairmount Park bedeckt eine Fläche von etwa 3600 Hektar und ist der größte Stadtpark Amerikas – ein Meer aus Bäumen, duftenden Büschen und sonnigen Lichtungen, das sich zu beiden Seiten des Schuylkill River erstreckt. Wir fuhren durch das weiche Licht der Abenddämmerung. Auf dem Fluss zogen Ruderboote ihre Bahnen. Es war ein Bild der Vollkommenheit.
Mt. Airy ist ein Viertel im Stadtteil Germantown. Es wirkte so angenehm beständig, als lebten die Menschen seit Generationen dort – was in vielen Stadtvierteln Philadelphias auch tatsächlich der Fall ist, wie Lucia mir erklärte. In dieser Stadt gab es noch immer zahlreiche Viertel, in denen jeder jeden kannte.
Viele ihrer Bewohner entfernten sich nur äußerst selten mehr als ein paar Hundert Meter von ihren Häusern. Wagten sie sich doch einmal weiter weg, verloren sie häufig die Orientierung und mussten dann feststellen, dass kaum jemand ihnen zuverlässig den Weg in ein Viertel beschreiben konnte, das nur drei Meilen entfernt lag. Ich erfuhr außerdem, dass Philadelphia über ein eigenes Vokabular – für Downtown sagt man hier centre city, und Gehsteige nennt man nicht sidewalks, sondern wie in England pavements – sowie über einige Besonderheiten in der Aussprache verfügt.
Den Abend verbrachte ich bei Hal und Lucia. Ich aß bei ihnen, trank ihren Wein, bewunderte ihre Kinder und ihr Haus, ihre Möbel, ihre Besitztümer, ihren Wohlstand und ihren zwanglosen Lebensstil und bereute auf einmal, Amerika jemals verlassen zu haben. Das Leben war so vielfältig hier, so ungezwungen und angenehm. Plötzlich wollte auch ich einen Kühlschrank mit integrierter Eiswürfelmaschine und ein wasserdichtes Radio für die Dusche. Ich wollte eine elektrische Orangenpresse und einen Raumionisator und eine Armbanduhr, die mich über meinen Biorhythmus auf dem Laufenden hielt. All das schien mir mit einem Mal erstrebenswert. Einmal an diesem Abend
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