Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
nächste und befahl uns förmlich, alles in uns hineinzustopfen.
Noch nie habe ich solche Essensberge gesehen. Ich konnte nicht über meinen Teller blicken. Alles schmeckte köstlich. Bald kannte jeder jeden, und jeder amüsierte sich glänzend. Ich aß so
viel, dass mir die Achselhöhlen anschwollen. Und immer wieder wurden neue Schüsseln aufgetragen. Als ich gerade dachte, dass ich das Auto wohl nicht mehr ohne Rollstuhl erreichen würde, entfernte die Kellnerin alle Platten und Schüsseln und begann, die verschiedensten Desserts zu servieren – Apfelkuchen, Schokoladenkuchen, hausgemachtes Eis, Gebäck und der Himmel weiß, was sonst noch alles.
Ich aß weiter. Es schmeckte einfach zu gut, um aufzuhören. Von meinem Hemd sprangen die Knöpfe ab. Meine Hose platzte auf. Ich hatte kaum noch die Kraft, den Löffel zu heben, doch ich schaufelte weiter. Es war grotesk. Das Essen kam mir schon aus den Ohren heraus. Aber ich aß weiter. An diesem Abend vertilgte ich das Bruttosozialprodukt von Lesotho. Endlich erlöste uns die Kellnerin, nahm uns die Löffel aus den Händen und ließ alle Desserts vom Tisch verschwinden. Wie im Tran stolperten wir in die Nacht hinaus.
Wir stiegen ins Auto, zu voll, um zu reden, und steuerten auf den in der Ferne grünlich leuchtenden Reaktor Three Mile Island zu. Mit den Füßen in der Luft lag ich auf dem Rücksitz und jammerte. Ich gelobte, nie wieder auch nur einen Bissen zu essen. Und ich meinte, was ich sagte. Als wir jedoch zwei Stunden später das Haus meines Bruders erreicht hatten, ließen die Qualen allmählich nach, und mein Bruder und ich läuteten die nächste Runde der Völlerei ein. Sie begann mit einem Zwölfer-Pack Bier und einem Eimer voller Brezeln aus seiner Küche und endete in den frühen Morgenstunden in einem rund um die Uhr geöffneten Fresslokal am Highway 11 mit einem Teller Zwiebelringe und einen halben Meter langen Jumbo-Sandwiches, reichlich gewürzt und fingerdick bestrichen mit sentimentalem Schmalz.
Welch ein großartiges Land.
14
Es war zehn vor sieben in der Frühe, und es war kalt. Ich stand vor dem Busbahnhof von Bloomsburg und konnte meinen Atem sehen. Die wenigen Autos, die zu dieser frühen Stunde unterwegs waren, zogen Rauchwolken hinter sich her. Verkatert wie ich war, würde ich in wenigen Minuten in einen Bus steigen, der mich in fünf Stunden nach New York bringen sollte. Lieber hätte ich Katzenfutter gefressen.
Mein Bruder hatte mir geraten, mit dem Bus zu fahren, weil mir auf diese Weise die Parkplatzsuche in Manhattan erspart bliebe. Das Auto könnte ich bei ihm lassen und es in ein, zwei Tagen wieder abholen. Um zwei Uhr nachts, nach ausgiebigem Biergenuss, schien es ein guter Plan zu sein. Doch nun, in der morgendlichen Kühle, wurde mir klar, dass ich im Begriff war, einen großen Fehler zu machen. In den Vereinigten Staaten setzt man sich nur dann in einen Überlandbus, wenn man sich entweder keinen Flug oder – und das ist in diesem Land wirklich das Allerletzte – kein Auto leisten kann. Wer sich in Amerika kein Auto leisten kann, ist nur noch einen Schritt von der Gosse entfernt. Folglich gehören die meisten Passagiere von Überlandbussen zu einer der folgenden Kategorien: Es sind entweder schizoide Menschen, bewaffnete und gemeingefährliche Typen, Drogensüchtige, frisch aus der Haft Entlassene oder Nonnen. Gelegentlich befindet sich auch ein Studentenpärchen aus Norwegen darunter. Dass es sich um norwegische Studenten handelt, ist unschwer an ihrem rosigen, kerngesunden Aussehen zu erkennen. Außerdem tragen sie grundsätzlich blaue Söckchen
in ihren Sandalen. Im Großen und Ganzen verbindet eine Fahrt in einem amerikanischen Überlandbus fast alle Schattenseiten des Gefängnislebens mit denen einer Ozeanüberquerung an Bord eines Truppentransportschiffes. Als der Bus vor mir hielt, einen pneumatischen Seufzer ausstieß und seine Türen aufklappte, stieg ich daher mit einigem Unbehagen ein. Nicht einmal der Fahrer machte einen unbedingt soliden Eindruck. Mit seiner Frisur sah er aus, als hätte er gerade an einer Hochspannungsleitung herumgespielt. Von dem rund einem halben Dutzend Fahrgästen wirkten jedoch lediglich zwei ernstlich geistesgestört, und nur einer redete mit sich selbst. Ich setzte mich in den hinteren Teil des Busses und wollte ein wenig schlafen. In der vergangenen Nacht hatten mein Bruder und ich ohne Frage ein paar Bierflaschen zu viel geleert, und auch die scharfen Gewürze auf dem
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