Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
von Innenhöfen, in denen sich die Regenpfützen wochenlang halten und in deren Blumenbeeten verwaiste Einkaufswagen herumstehen. Dort wohnten rund 50 000 Menschen. Ich hatte nicht mal geahnt, dass auf so wenig Raum so viele Menschen leben konnten, und verstand nicht, warum die Leute in einem so großen und offenen Land wie Amerika freiwillig in solche Gegenden zogen. Doch für all diese Menschen war dies das Zuhause. Dort verbrachten sie ihr Leben, ohne jemals einen eigenen Garten zu besitzen. Niemals
würden sie ein Barbecue veranstalten oder zu mitternächtlicher Stunde aus ihrer Hintertür treten, um in die Büsche zu pinkeln oder die Sterne zu zählen. Ihre Kinder würden in dem Glauben aufwachsen, Einkaufswagen wucherten wild wie Unkraut.
Abends, wenn mein Bruder und seine Frau ausgegangen waren, griffen Stan und ich zu einem Fernglas und nahmen damit die Fenster der Nachbarhäuser in Augenschein. Wir hatten Hunderte von Fenstern zur Auswahl, und hinter jedem flackerte gespenstisch ein Fernseher. Natürlich hielten wir nach nackten Frauen Ausschau, die wir zu unserem Entzücken auch gelegentlich zu Gesicht bekamen. Das führte dann jedoch meistens zu handgreiflichen Auseinandersetzungen um das Fernglas, so dass die Frauen längst ihre Abendgarderobe angelegt und das Haus verlassen hatten, wenn wir ihre Fenster wieder im Visier hatten. Hauptsächlich entdeckten wir allerdings andere Männer mit Ferngläsern, die ihrerseits die Fenster unseres Gebäudes inspizierten.
Besonders gut kann ich mich daran erinnern, wie beklommen uns zu Mute war, wenn wir das Haus verließen. Überall hingen Gruppen von Jugendlichen in Lederjacken herum und beobachteten jeden, der vorbeiging. Ich rechnete jedes Mal damit, dass sie hinterrücks über uns herfallen, uns unseres Geldes berauben und uns anschließend die Messer, die sie in den Gefängniswerkstätten gebastelt hatten, in die Rippen stoßen würden. Doch sie ließen uns in Ruhe und glotzten nur. Es war trotzdem beängstigend. Schließlich waren wir bloß zwei schmächtige Jungs aus Iowa.
New York machte mir noch immer Angst. Als ich nun zum Times Square schlenderte, empfand ich die Stadt als ebenso bedrohlich wie damals. Ich hatte so viel über Morde und Gewaltverbrechen auf den Straßen gelesen, dass ich mich jedem, der mir begegnete, ohne mir etwas anzutun, zu Dank verpflichtet fühlte. Ich trug mich mit dem Gedanken, Kärtchen mit der Aufschrift »Danke, dass Sie mich am Leben lassen!« zu verteilen.
Die Einzigen, die über mich herfielen, waren die Bettler. In New York gibt es 36 000 Stadtstreicher. Im Laufe der zwei Tage, die ich dort verbrachte, hat mich jeder Einzelne von ihnen um Geld angebettelt, manche sogar zweimal. Viele New Yorker fahren nach Kalkutta, um sich von der Bettelei zu erholen. Ich begann zu bedauern, nicht in einer Zeit zu leben, in der ein Gentleman solche Leute noch mit seinem Spazierstock zurückstoßen konnte. Ein Typ, der Raffinierteste von allen, kam auf mich zu und fragte, ob ich ihm einen Dollar leihen könnte. Das haute mich glatt um. Ich wollte schon sagen: »Einen Dollar leihen? Na klar. Sagen wir, zu einem Prozent über dem Leitzinssatz? Und nächsten Donnerstag treffen wir uns wieder und begleichen die Angelegenheit.« Ich gab ihm keinen Dollar, natürlich nicht – ich würde nicht einmal meinem besten Freund einen Dollar geben aber ich drückte ein Zehncentstück in seine schmuddelige Pfote und zwinkerte ihm angesichts seiner Hinterlist freundlich zu.
Der Times Square ist unglaublich. So viele Lichter und ein solches Gedränge sieht man nicht alle Tage. Ganze Häuserseiten hat man in Werbeflächen umfunktioniert. Alles blinkt und wogt, wie bei einem Sturm auf einem elektronischen Meer. Von diesen großflächigen Aufrufen zum Kommerz gab es vielleicht vierzig, und bis auf zwei stammten alle von japanischen Firmen: Mita Copiers, Canon, Panasonic, Sony. Mein mächtiges Heimatland war nur durch Kodak und Pepsi Cola vertreten. Der Krieg ist vorbei, alter Yankee, ermahnte ich mich.
Das Spannendste an New York ist, dass dort alles passieren kann. Erst eine Woche zuvor hatte eine Rolltreppe eine Frau gefressen. Ist denn das zu fassen? Sie war auf dem Weg zur Arbeit, als plötzlich die Treppe unter ihr nachgab und sie in deren Innenleben stürzte, mitten in das dröhnende Getriebe, in all die Zahnräder, mit all den Konsequenzen, die Sie sich vorstellen können. In diesem Gebäude möchte ich nicht zum Reinigungspersonal gehören.
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