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Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Titel: Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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Bücherei, das Postamt und die Geschäfte waren von fast jedem Haus schnell und angenehm zu Fuß zu erreichen. Mein Bruder und seine Frau erzählten mir, dass außerhalb der Stadt der Bau eines riesigen Einkaufszentrums geplant sei, in das dann die meisten der größeren Geschäfte umsiedeln würden. Anscheinend legen die Leute keinen Wert darauf, zu Fuß einkaufen gehen zu können. Sie wollen in ihre Autos steigen, zum Stadtrand fahren, dort parken, um dann einen ähnlich weiten Fußweg über einen flachen, baumlosen Parkplatz zurückzulegen. So geht ganz Amerika einkaufen, und man will schließlich dazugehören. Also wird vermutlich auch halb Downtown Bloomsburg bald dem Verfall preisgegeben sein, und wieder einmal geht eine hübsche Kleinstadt verloren. Und das nennen sie dann Fortschritt.
    Trotz alledem war die Freude groß, meinen Bruder und seine Familie wiederzusehen, wie Sie sich denken können. Ich tat all das, was man so tut, wenn man Verwandte besucht. Ich aß, was sie auftischten, stieg in ihre Badewanne, benutzte ihre Waschmaschine und ihr Telefon, stand untätig herum, während sie nach einer Decke für mich suchten und sich mit einer widerspenstigen
Schlafcouch herumschlugen, und natürlich kroch ich mitten in der Nacht, als alles schlief, aus dem Bett und sah mich ausgiebig in ihren Wandschränken um.
    Da sie an diesem Wochenende nichts Besseres vorhatten, beschlossen mein Bruder und seine Frau, mit mir ins Lancaster County zu fahren, um mir das Land der Amish zu zeigen. Die Fahrt dauerte zwei Stunden. Unterwegs machte mein Bruder mich auf den Atomreaktor Three Mile Island in Harrisburg aufmerksam, in dem nachlässige Angestellte wenige Jahre zuvor um ein Haar die gesamte Ostküste verstrahlt hatten. Nach weiteren vierzig Meilen kamen wir am Atomkraftwerk Peach Bottom vorbei. Dort hatte man erst vor kurzem siebzehn Angestellte gefeuert, nachdem ans Licht gekommen war, dass sie ihre Arbeitszeit dazu missbraucht hatten, zu schlafen, Drogen zu nehmen und sich mit Videospielen und anderen kurzweiligen Dingen zu beschäftigen. Zeitweise, so hatten die Ermittlungen ergeben, döste die komplette Belegschaft des Kraftwerks vor sich hin. Staatlichen Versorgungsbetrieben erteilt man in Pennsylvania die Genehmigung zur Inbetriebnahme eines Atomkraftwerks mit ähnlicher Selbstverständlichkeit, wie man Prinz Philip durch den Londoner Luftraum fliegen lässt. Jedenfalls werde ich bei meinem nächsten Besuch in Pennsylvania einen Strahlenschutzanzug mitbringen.
    Das Lancaster County ist die Heimat der Pennsylvania Dutch – der Amish und der Mennoniten. Die Mennoniten verdanken ihren Namen Menno Simons, einem ihrer ersten Führer. In Europa nannte man sie Anabaptisten oder Wiedertäufer. Vor 250 Jahren kamen sie ins Lancaster County, wo heute 12 500 Amish leben, die fast alle von den ursprünglich dreißig Paaren abstammen. Die Amish spalteten sich 1693 von den Mennoniten ab. Seitdem hat es zahllose weitere Abspaltungen gegeben. Doch eins haben all diese Religionsgemeinschaften gemeinsam: Sie kleiden sich schlicht und scheuen die technischen Errungenschaften der Neuzeit. Seit ungefähr 1860
herrscht unter ihnen Uneinigkeit, wie weit der Verzicht auf moderne Technik zu gehen hat. Sobald eine neue Erfindung auf den Markt kommt, streiten sie sich darüber, ob diese nun gottlos ist oder nicht, und die, die sie für gottlos halten, gehen fort und gründen eine neue Sekte. Anfänglich gerieten sie sich über die Frage in die Haare, ob ihre Einspänner mit Stahl- oder Gummifelgen ausstaffiert werden sollten, dann ging es um die Einführung von Traktoren, dann um Elektrizität und Fernsehen. Heute zanken sie sich vermutlich über die Zulässigkeit von automatisch abtaubaren Kühlschränken und können sich nicht einig werden, ob ihr Instantkaffee pulverförmig oder gefriergetrocknet sein soll.
    Das Herrlichste an der Kultur der Amish sind die Namen, die sie ihren Städten geben. Überall sonst in Amerika benennt man Städte entweder nach dem ersten Weißen, der sich dort niederließ, oder nach dem letzten Indianer, der von dort vertrieben wurde. Doch die Amish machten sich offensichtlich mehr Gedanken über dieses Thema und ließen sich für ihre Städte interessante, ja sogar provokative Namen einfallen: Blue Ball, Bird in Hand und Intercourse, um nur drei zu nennen. Intercourse (»Verkehr«) verdient nicht schlecht an seinem zweideutigen Namen, der so viele Vorbeireisende anlockt, Leute wie mich, die meinen, es gäbe

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