Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
die beiden Tode nicht miteinander in Zusammenhang? Ich stellte mir vor, wie die Eltern um Joshua F.s Bett hockten und zusehen mussten, wie sein Leben erlosch, wie sie zu Gott beteten, er möge ihnen wenigstens diesen Sohn lassen, und wie ihre Hoffnungen zunichte gemacht wurden. Ist das Leben nicht beschissen? Wo ich auch hinsah, überall dokumentierten die Steine Enttäuschung und Leid: »Joseph, Sohn von Ephraim und Sarah Carter, gestorben am 18. März 1846, 18 Jahre alt«, »Alma Foster, Tochter von Zadock und Hannah Richardson, gestorben am 22. Mai 1847, 17 Jahre alt«. So viele waren so jung. Mich überkam eine unbeschreibliche Melancholie, während ich allein zwischen diesen Hunderten von verstummten Seelen wandelte, zwischen diesen Reihen erloschener Träume und geleerter Leben. Welch ein trauriger Ort. Da stand ich in der milden Oktobersonne und war voller Mitleid für all diese glücklosen Menschen und ihre verlorenen Leben. Schwermütig sann ich über die Endlichkeit nach und dachte an meine eigene Familie im fernen England. Doch dann schickte ich den Trübsinn zum Teufel und marschierte den Hügel hinab zum Auto.
Auf dem Weg quer durch Vermont in Richtung Westen erreichte ich die Green Mountains. Zu Füßen der dunklen, rundlichen Berge breiteten sich üppige Täler aus. Hier schien das Licht weicher, schläfriger und herbstlicher zu sein. Und überall war Farbe – senfgelbe und rostrote Bäume, goldfarbene und grüne Wiesen, blendend weiße Scheunen und tiefblaue Seen. Gelegentlich tauchten Stände am Straßenrand auf, an denen Kürbisse und andere Früchte des Herbstes angeboten wurden. Es war wie ein Ausflug ins Paradies. Während ich über die Nebenstraßen zuckelte, fiel mir auf, wie ärmlich einige der erstaunlich vielen kleinen Häuser wirkten. Wovon lebten die Menschen hier? In einer Gegend wie Vermont konnte es nicht viele Arbeitsplätze
geben. Der Staat verfügt weder über nennenswerte Städte noch über Industrie. Die größte Stadt, Burlington, hatte gerade 37 000 Einwohner. In der Nähe von Groton hielt ich vor einem Café, bestellte einen Kaffee und lauschte zusammen mit den drei übrigen Gästen einer dicken jungen Frau mit zwei vernachlässigten Kindern, die sich mit der Frau hinterm Tresen lautstark über ihre finanziellen Probleme unterhielt. »Die zahlen mir immer noch ganze vier Dollar die Stunde«, sagte sie. »Harvey ist nun schon drei Jahre bei Fibberts und hat gerade seine erste Lohnerhöhung gekriegt. Weißt du, was er jetzt verdient? Vier Dollar und fünfundsechzig Cents die Stunde. Ist das nicht zum Heulen? Ich hab zu ihm gesagt: ›Harvey, die nutzen dich nur aus.‹ Aber der lässt sich ja alles gefallen.« Hier brach sie ab, um mit dem Handrücken einem ihrer Kinder übers Gesicht zu fahren. »WIE OFT HABE ICH DIR SCHON GESAGT, DU SOLLST MICH NICHT UNTERBRECHEN, WENN ICH MICH UNTERHALTE?«, wollte sie von dem kleinen Kerl wissen und wandte sich dann mit ruhigerer Stimme wieder der Frau hinterm Tresen zu, um ihr Harveys sonstige Schwächen aufzulisten, die übrigens recht zahlreich waren.
Erst am Tag zuvor hatte ich in einem McDonald’s Restaurant in Maine ein Schild gesehen, auf dem eine Arbeitskraft für einen Anfangslohn von 5 Dollar pro Stunde gesucht wurde. Harvey muss tatsächlich ein außergewöhnlich unfähiger Trottel gewesen sein, wenn er nicht einmal in der Lage war, mit einem sechzehnjährigen Burgerjockey von McDonald’s Schritt zu halten. Armer Kerl! Und obendrein war er mit einer Frau verheiratet, die nicht nur schlampig und indiskret war, sondern noch dazu ein Hinterteil so breit wie ein Scheunentor hatte. Ich hoffte nur, dass der gute Harvey, zumindest die natürliche Schönheit zu schätzen wusste, mit der der Herrgott seinen Heimatstaat so überreichlich gesegnet hatte, wenn er selbst bei seinem Segen schon zu kurz gekommen war. Selbst seine Kinder waren hässlich. Als ich hinausging, hätte ich einem von ihnen beinahe eine
Ohrfeige verpasst. Irgendetwas in seinem frechen kleinen Gesicht erweckte in mir den Wunsch, ihm eine runterzuhauen.
Ich fuhr weiter und dachte, wie seltsam es doch sei, dass gerade in den wirklich schönen Gegenden Amerikas – in den Smoky Mountains, in Appalachia und nun in Vermont – die ärmsten und ungebildetsten Menschen lebten. Und dann kam ich nach Stowe und begriff, was für ein Depp ich bin, wenn es darum geht, Dinge zu verallgemeinern. Stowe war alles andere als arm. Es war eine reiche Kleinstadt, voller schicker
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