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Straub, Peter

Straub, Peter

Titel: Straub, Peter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fremde Frau
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der Mauer sitzen und über den See hinaussehen. Jedenfalls soviel wir davon sehen. «
    Die stummen Angler ducken sich, wenn wir sprechen, wie in einem kalten Wind. Die Gerten ragen in parallelen Reihen auf und ziehen unsichtbare Leinen hinter sich her.
    Joanie bleibt wieder stehen und sieht sich um; sie wartet darauf, dass ich zu ihr komme. Ihr Verhalten ist verschwör e risch. Als ich sie erreiche, beuge ich mich hinab und spüre, wie sich ihre Lippen an meinem Ohr bewegen. »Ich würde es gerne hier machen «, flüstert sie. »Das wäre so unheimlich. Und d a nach könnten wir einfach ins Wasser rollen und uns waschen, wie die Seehunde. « Ich hatte in etwa erwartet, dass sie so etwas sagen würde. Um ihr zu zeigen, dass ich von dieser Vorstellung nicht abgestoßen bin, umarme ich sie und presse eine Hand fest auf die straffen gelben Hügel ihrer Gesäßbacken. Sie sieht zur Seite, zum breiten Khakirücken eines uns abgewendeten An g lers, der kaum vier Schritt entfernt sitzt. Dann weicht sie zurück. »Papa würde sterben, wenn er davon wüsste «, sagt sie lächelnd. Nach einem Augenblick sagt sie: »Und Morgan ebenfalls. « Ihr Lächeln wird eine Spur berechnender.
     
    Als wir das Ende des Wellenbrechers erreichen, gehen wir auf dem Sims um den Leuchtturm herum zur Mauer an der Seese i te. »Ich finde, dieses Boot bewegt sich sehr langsam «, sagt sie. »He! Mir ist gerade etwas eingefallen: So wird es in Irland für dich sein. « Sie deutet auf den See und den weißen Nebel.
    »Wie kannst du ohne Sonnenschein leben? Ich habe es Mu t ter noch nicht gesagt, aber ich habe beschlossen, nach Israel zu gehen, sobald ich von einem Kibbuz aufgenommen werde. Ich wünsche mir wirklich von ganzem Herzen, dort zu sein. Ich muss etwas tun, um wieder mit mir ins reine zu kommen. Ich muss fort – die Stille in diesem Haus könnte einen umbringen. Aber, Himmel, sie werden sterben, wenn wir beide das Land verlassen. Sie werden Krämpfe bekommen. « Als beunruhigte sie dieser Gedanke, nimmt sie meine Hand und presst sie g e gen ihre Wange.
    »Magst du mich? « fragt sie.
    »Ich denke schon «, sage ich.
    »Hast du gewusst , dass ich mich in Boston selbst geschni t ten habe? Hat Morgan es dir erzählt? « Joanie senkt sich behu t sam, während sie diese Frage stellt, so dass sie am Ende auf der Mauer sitzt und ihre Beine über dem farblosen Wasser baumeln. Der Tonfall ihrer Stimme ist sanfter und leiser als vorher. Ich nehme neben ihr auf der Mauer am Leuchtturm Platz. Ich spüre den k a lten, feuchten Stein unter mir.
    »Nein, sie hat mir nichts davon erzählt, Joanie. Was meinst du damit, dich geschnitten? « Ich taste mich zur neuen Intens i tät ihrer Sprechweise vor.
    »Ich habe mit einem Messer auf meine Beine eingehackt. Darum habe ich die ganze Zeit über Hosen getragen. Die Ba n dagen, die ich als Mittel gegen Insektenstiche ausgab, bedec k ten eigentlich die Verletzungen, die ich mir selbst beigebracht habe. Hier. « Sie zog ein Hosenbein bis zum Knie hoch und zeigte mir das Schienbein. Wo noch vor einer Woche die Ve r bände gewesen waren, waren zwei schorfige braune Narben zu sehen, die sich auf der weißen Haut hässlich ausnahmen. »Ich war zu verlegen, dir die Wahrheit zu sagen. «
    »Nun, schön ist es nicht «, sage ich. »Du musst sehr fest en t schlossen gewesen sein. « Ich weiß nicht, was ich sagen soll, mir fällt nichts ein, um die Sinnlosigkeit dessen, was sie getan hat, auszudrücken. Ich bin sicher, Abe hätte mit den Achseln gezuckt und wäre davongelaufen. Vielleicht hätte er ihr den Arm um die Schultern gelegt, sie mit seinem breiten Scha u spielergrinsen angelächelt und ihr gesagt, sie sollte nicht so affektiert sein.
    »Ich wusste nicht einmal, dass ich unglücklich bin, bis ich anfing, das zu tun «, sagt sie. »Ich war so fertig, dass ich mich einfach leer fühlte. Natürlich war ich high. Im Haus lag aller möglicher Stoff herum. Papa schickte mi r e inen Brief nach dem anderen und flehte mich praktisch an, sein Geld zu ne h men und nach Hause zu kommen, Fred war oben in der Ko m mune und schlief wahrscheinlich mit einem anderen Mädchen, und ich hatte keine Ahnung, was aus mir werden sollte. Ich war zu feige, einen Selbstmordversuch zu wagen, denke ich, und ich wollte etwas Schreckliches, Entwürdigendes und Furchtbares tun. Es war wie eine schreckliche Trance. «
    Sie sieht auf das Wasser hinab, das gegen den Stein plä t schert. »Ich schwöre dir, wenn du nicht wärst, würde ich mich

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