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Straub, Peter

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Titel: Straub, Peter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fremde Frau
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über › Joanies Make-up-Periode ‹ . Ich habe von beiden gehört, dass sie wöchentlich für fünf bis sechs Dollar Kosmetika im Drugstore kaufte und die Rechnungen auf das Konto ihrer Eltern laufen ließ. Meine Frau sagte, zu dieser Zeit › lief Joanie herum wie ein Zirkus ‹ . Ihr Vater sagte mir: »Wir machten uns wirklich große Sorgen. Sie lief im Haus herum und hatte ständig dieses Zeug auf dem Gesicht. Ich wusste nicht, was ich zu ihr sagen sollte. Ich konnte ihr nicht sagen, dass sie wie eine Leprakranke aussah. Damals konnte man niemals das richtige zu Joanie sagen. Das, und die Jungs, mit denen sie ging, das war das Schlimmste. «
    »Vito Pinelli «, sagt sie zu mir. »Der nächste große Streit war wegen Vito Pinelli. « Joanie steht auf und duckt sich unter dem Cinzano-Schirm. Sie geht ans Geländer über dem atemb e raubenden Hafen. Um ihr mit den Augen zu folgen, drehe ich mich dem Tisch zu und lege die Hände darauf, eine Handfl ä che auf die andere.
    »Immerhin war das das zweite Mal, dass er mich eine Hure genannt hat «, sagt sie. »Mittlerweile wusste ich, was das b e deutete. Es war so ungerecht. «
    Ich stehe ebenfalls auf und gehe zu ihr ans Geländer. A b seits der Schirme weht eine sanfte Brise, die den Geruch von Meerwasser mit sich bringt, von grauen Wogen, die träge auf sonnenlosem Wasser schaukeln. Ich lege den Arm um sie, z u erst über ihre Schultern, dann gleite ich unter ihre Achselhö h le, so dass ich ihre Brust, unter dem blauen Stoff der Bluse, in der Hand halten kann.

4
     
    »… dass ich Dich jetzt kenne. Wenn dies eine Illusion ist, dann ist nichts in meinem Leben real. Es handelt sich um di e ses spezielle Wissen › das nonverbale Erkennen der tiefsten Tiefen einer anderen Person, der Ursprünge ihres Verhaltens. Vielleicht muss man mit jemandem ins Bett gehen, um dieses spezielle Wissen zu erlangen, auf jeden Fall ist es hilfreich. Ich denke, eine Frage des Rhythmus. Hier kommt mir ein Geda n ke: Das trifft nicht auf jeden zu, was ich gerade gesagt habe, nur auf diejenigen, die imstande sind, glücklich in ihrem Kö r per zu leben. Meinen wir das mit dem Ausdruck sinnlich? Es ist ein Wort, das ich mein ganzes Leben lang gebraucht habe, aber es verschaffte mir niemals zuvor diese sanfte E xp losion im Magen, die ich verspüre, wenn ich an dich denke. Die E s senz davon – wie es sich meinen Sinnen darbietet, sollte ich sagen – ist, dass alles, was ich um mich herum sehen kann, bis zum Rand mit seinem eigenen Selbst aufgeladen ist; so wie ich, während ich hier, irrelevant, darauf warte, dass mein Mann mich nach Paris zurückbringt.
    Aber wir hatten unseren gemeinsamen Monat, nicht? Sogar die Szene im Garten hat sich gelohnt – da ich eine Vorstellung habe, was Du dort erlebt hast. Diese Kraft in Dir, die unko n ventionell und wild ist, risikofreudig, gefühlsbetont – ich glaube, Du bist endlich damit ins reine gekommen und kon n test Dich daher in einem neuen Licht sehen. Ich kann nicht darüber sprechen, aus allen einleuchtenden und richtigen Gründen, aber selbst inmitten meines Schmerzes angesichts der Erkenntnis, dass Du mich wirklich verlassen würdest (und mit dem Wissen, welche unbedeutende Rolle Magruder ta t sächlich dabei spielte), spürte ich, wie viel guten puritanischen Fels es in Dir gibt. Selbst in diesem Elend hatte ich den Ei n druck, dass ich hinter die Wahrheit blicken konnte; zumindest hinter eine Wahrheit. Die Komödie unserer Beziehung ist (war), dass wir auf so komische Weise verschieden waren, so vollkommen unterschiedliche Naturen. Du klammerst Dich an eine Vorstellung von der Wahrheit, die Du wie eine Geliebte in Dir hältst. Es ist etwas Entdeckbares, Aussprechbares, Wahrnehmbares, Erträgliches, denkst Du, etwas wie das Leuchten von Gras an einem grauen, verhangenen Tag. Ein Roman, der Dir gefallen würde: Anna Karenina. (Als ich das schreibe, fällt mir ein, dass Du ihn gelesen und mir empfohlen hast.) Ich glaube, hier in Aix kam Dir endlich die Erkenntnis, dass Du eine schreckliche, positive Kraft in dir hast, und das stimmt. Ich drücke das nicht richtig aus : vielleicht, weil ich mich immer noch bemühe, es zu verstehen.
    Erinnerst Du Dich noch an das Mädchen, das wir in der Al t stadt von Tours trafen? Nachdem ich diesem englischen Ju n gen zugehört hatte, musste ich mit ihr reden, um herauszufi n den, ob Kinder heute noch ein Gespür für Ironie haben. Sagen wir, zur Beruhigung. Ich hielt es nicht für möglich, dass der

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