Straub, Peter
ich weiß nicht mehr, wer sie schreibt. Das wollte ich aber eigentlich auch gar nicht erklären. «
»Sie haben den Boden bereitet «, schlug Abe vor.
»Oh, es ist herrlich, wie Sie alles verstehen! Genau das habe ich getan. Die Leute sehen diese kleinen Bücher, und weil i h nen natürlich auffällt, wie schlecht sie sind, nehmen sie die Astrologie niemals wirklich ernst. Die meisten gehen gar nie zu einem professionellen Astrologen. «
»Haben Sie das getan? « Abes Gesichtsausdruck verriet gutmütige Skepsis.
Sheila schob sich einen ihrer reizenden Finger in den Mund und ließ ihn einen Augenblick dort. »Noch nicht «, sagte sie, nachdem sie ihn wieder herausgenommen hatte, »aber ich sol l te es einmal tun. Ich finde, es gibt keinen Ersatz für einen Pr o fi, nicht einmal bei etwas so Ungreifbarem wie der Astrol o gie. «
Sie fuhr fort. »Ich glaube, ich mag die Astrologie deshalb, weil sie einem hilft, seinen Standort zu bestimmen. Wenn man seinen Standort kennt, dann weiß man genau, welches Vorg e hen richtig für einen ist, und welches falsch, und man weiß, was einem gegen den Strich geht. Dann – und das ist das wic h tigste – kann man aus sich selbst herausgehen. Oh, ich glaube nicht, dass ich mich vernünftig anhöre. Hier verschmelzen Wissenschaft und Magie, die beiden vitalsten Aspekte des menschlichen Verstandes. Das verbindet uns mit allem Bele b ten und Unbelebten. Indem wir das Selbst verlieren, gewinnen wir die Welt. Ich finde, es ist wichtig, das Selbst zu überwi n den, Sie nicht? «
Abe Gabriels Augen leuchteten. Ich fragte mich, ob er wir k lich daran glaubte oder ob er sich lediglich amüsierte. Ich fra g te mich auch, welche Bücher Sheila in letzter Zeit gelesen ha t te, und von wem sie diese an den Haaren herbeigezogenen A n sichten hatte. Als sie anfing, davon zu sprechen, dem Selbst zu entfliehen und eins mit der natürlichen Welt zu werden, da bestätigten sich für mich Jacks Befürchtungen – ich merkte, wie sich ihr die Denkweise einer anderen Person aufgeprägt hatte. Es war enttäuschend, dachte ich , dass die Erweiterung ihres Horizonts so eindeutig aus einer zweitklassigen Quelle stammte.
Aber Abe stimmte ihr zu. Er sagte: »Die Gemeinschaft ist wichtig. Oder die Gemeinsamkeit. Wir haben die alten Vo r stellungen vom privaten Selbst überwunden. Alles gehört a l len. In Haifa und in Tel Aviv sehen wir, wie sich junge Me n schen zu Gruppen zusammenfinden, wie hier. Die älteren Menschen, die an das Ich und an Besitz glauben, wissen nicht, was sie davon halten sollen, daher tun sie so, als wäre es übe r haupt nicht da. Es gehört nicht zu ihren Plänen. «
In einer vollkommenen Trance des Verstehens nickten und lächelten sie einander zu. Ich, mit meiner Last des Glaubens an das komplexe Selbst, diese urbane Schöpfung, welche selbst den eigenen Unzulänglichkeiten einen Wert beimessen konnte, kam mir unglaublich alt vor. Was ist mit der Liebe, wollte ich sagen, ist sie nicht etwas Auserwähltes? Das Selbst findet eine Welt in einem auserwählten anderen. Ich dachte an die Frau, und der Gedanke erfüllte mich wie eine berstende Frucht, und ich fand, dass die beiden kindisches Zeug daherplapperten. Ich hatte mich so daran gewöhnt, von Sheila fasziniert zu sein, dass ich den Altersunterschied zwischen uns – sie war zehn Jahre jünger als ich – völlig vergessen hatte.
Später, nach Sheila Goldsmiths schamloser und völlig öffentl i cher Affäre mit Abe Gabriel, fand Jack Goldsmith heraus, wer der erste Geliebte seiner Frau gewesen war. Der Geliebte war ein recht verwirrter und kurzatmiger junger Mann gewesen, der ebenfalls Englisch an der Universität von London studie r te. Er und Jack waren sich in der Bibliothek begegnet – auch eines dieser argwöhnischen Treffen von zwei Amerikanern –, und Jack hatte ihn ein - oder zweimal zum Essen nach Hause eingeladen; nachdem er seine kurze Affäre mit Sheila bego n nen hatte, hörte er stillschweigend auf, an seiner Examensa r beit zu schreiben – › über Blakes Zoas und Shelley ‹ , hatte Jack mir erzählt –, ein Semester später verließ er die Universität. Zuerst war er verblüfft, dass Sheila seine Avancen akzeptierte, dann ebenso verblüfft, als sie sich ihm verweigerte. Nach di e sem Schock nahm er einen Job in der Buchhandlung Dillon an und begann, Gedichte zu schreiben – Gedichte mit sehr langen Strophen. »Seine Fingernägel waren immer schmutzig «, b e schwerte Jack sich. Das war während
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