Street Art Love (German Edition)
säubert, flitzt Charly in seinen Teil des Ateliers, zieht sich eine dicke Jacke über seinen schwarzen Hoodie und packt eilig einen Rucksack. Ich sehe eine Sammlung von Sprühflaschen und die Atemmaske darin verschwinden, dann kommt er zurück. Er zwinkert mir zu und sagt leise: »Interessiert dich mein neuestes Piece?«
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NATÜRLICH INTERESSIERT MICH, was Charly in der Nacht sprayt. Sogar sehr.
Der Freund von Charlys Vater hat einen alten VW -Bus, die Männer sitzen vorne, Charly und ich hinten auf der großen Rückbank. Hinten im Fond des Wagens rutschen Farbeimer und Keilrahmen hin und her, als wir vom Hof fahren.
»Ich bin noch nicht ganz fertig«, sagt Charly, und ich weiß, dass er sein Spraybild oder Piece meint.
»Hast du auch ein eigenes Tag?«
»Klar.« Er holt ein Spiralheft aus seinem Rucksack und reicht es mir. Es ist abgegriffen, voller Farbe und leicht aufgequollen, als hätte es schon mehrmals im Regen gelegen. Ich blättere das Heft durch, es ist voll mit Zeichnungen und Entwürfen. Charly tippt auf einen kurzen Schriftzug, bei dem ich maximal das C und das Y erkenne. Sein Tag. Sehr cool.
In das Heft sind auch Fotografien von anderen Graffiti und Stencils eingeklebt. Ich finde Banksys Ratte, sogar den Mao aus dem Museum. Ist dies das Heft, das er in der Schule herumgezeigt hat? Das Pia vor mir gesehen hat? Schätze mal, gerade bin ich eifersüchtig.
Nach einer halben Stunde verlassen wir die Autobahn und sind in der Stadt, genauer gesagt Charlottenburg.
»Wir fahren nach Friedrichshain, wo wollt ihr raus?«, fragt der Freund von Charlys Vater.
»Prenzlauer Berg«, sagt Charly.
Wir fahren noch mal fast eine halbe Stunde, bis wir an eine sehr breite Straße kommen. Die Prenzlauer Allee. Der VW -Bus hält, wir steigen aus.
»Wie kommt ihr zurück?«, fragt Charlys Vater.
»Öffentliche«, sagt Charly knapp, und sein Vater fragt nicht weiter nach und macht ihm auch keine Zeitansage. Ich sehe wieder auf mein iPhone, es ist kurz nach sechs, die Sonne geht schon unter. Aber ich habe noch genug Zeit.
Die Prenzlauer Allee ist eine riesige Straße, in der Mitte fährt die Straßenbahn, rechts und links die Autos. Die Gehwege sind so breit, dass man zu viert nebeneinandergehen könnte. Hier war ich noch nie. Ich folge Charly, der sich offenbar genau auskennt. Vorbei an einem kleinen Suppenladen, einem Elektrogeschäft, einem Bäcker, einem Fahrradladen bis zu einem freien Grundstück, auf dem ein Parkplatz angelegt worden ist. Der Boden ist nur grob zubetoniert, und zwischen den Ritzen im Beton wuchert Unkraut. Rechts und links ragen die Brandwände der Nachbarhäuser empor. Der untere Bereich ist voll mit Graffiti.
»Hier?«, frage ich auf einmal aufgeregt.
»Hinten durch«, sagt Charly und geht bis tief in das Grundstück hinein. Das rechte Vorderhaus endet hier, und flache, heruntergekommene Garagengebäude schließen sich an. Und dann sehe ich es. Charlys Piece. Der Hintergrund ist schon angelegt, die Umrisse gesprayt. Ich erkenne eines der Bilder aus Charlys Skizzenbuch, ein Junge, der die Arme hochreißt und eine Sprayflasche in der einen Hand hält, die andere macht ein Peacezeichen. Ich bin beeindruckt, wie groß das Bild ist.
»Willst du es jetzt weitersprayen?«
Charly lächelt kurz, aber nicht überheblich. »Nein, ich muss warten, bis es ganz dunkel ist und hier weniger los ist. Es wird erst gegen zwei Uhr morgens ruhiger.«
»Und wenn jemand anders in der Zeit drübersprayt?«
»Mich crossed?«
»Ja?«
Charly schüttelt den Kopf. »Die kennen mich. Die wissen, dass ich an der Wand dran bin.«
Wir laufen wieder zurück zur Straße. Ich habe Hunger. Vor dem kleinen Suppenladen stehen lange Holzbänke. »Wollen wir hier was essen?«
Charly nickt und kramt in seiner Tasche.
»Ich mach schon. Was möchtest du?«, frage ich ihn.
»Eine Cola.«
Ich gehe rein, bestelle Cola und Wasser und von der Karte zwei Tagessuppen. Ich hoffe, Charly mag Möhrensuppe mit Curry.
Als ich rauskomme, hat Charly sein Skizzenbuch aufgeschlagen. Ich stelle ihm die Cola hin und mir das Wasser.
»Ich habe noch Suppe bestellt.«
Er sieht mich überrascht an. »Warum?«
»Weil …, ich hatte Hunger und dachte …«
Er grinst. »Ja, cool!«
Er schiebt mir das Buch mit einer aufgeschlagenen weißen Seite rüber und einen Kugelschreiber.
»Hast du Lust, mir da was reinzumalen?«
»Ich? Was denn?«
»Irgendwas.« Er blättert durch das Heft, bis zu der Zeichnung eines Adlers im
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