Street Art Love (German Edition)
klopfen? Einfach reingehen? Drinnen dröhnt laut Musik. Oder ich kehre um und behaupte, ich wäre krank geworden. Dann mache ich mich wenigstens nicht lächerlich mit meinem Spitzenrock in diesem heruntergekommenen Gebäude.
Am Ende hält mich die Tatsache davon ab, dass ich den ganzen Weg bis zum Treppenhaus wieder zurückgehen müsste. Ich nehme meinen Mut zusammen und klopfe an. Die Tür ist riesig, aus starken Holzplatten zusammengesetzt, ohne Klinke, es gibt nur eine Vorrichtung, mit der man den Raum von außen verriegeln kann. Tock, tock.
Nichts. Wie soll man mich bei der Lautstärke da drin auch hören? Ich hole mein Handy heraus und rufe Charly an. Ich habe nicht sehr viel Hoffnung, dass er das Klingeln hört. Vielleicht hat er auch viel später mit mir gerechnet? Oder gar nicht mehr?
Doch dann verstummt die Musik abrupt, und ich höre Schritte, die sich der Tür nähern. Ich unterdrücke den Impuls, wegzulaufen oder mich zumindest hinzuhocken und die Arme über den Kopf zu nehmen. Drehe ich jetzt total durch? Das ist doch kein Atomangriff!
Die Tür wird geöffnet, einer der Seitenflügel schwingt auf, und grelles Sonnenlicht blendet mich. Ich blinzele in einen Raum, der zur Hofseite mehrere Fenster hat, durch die die weißgelbe Nachmittagssonne in den Raum fällt. Ich habe noch nie ein so riesiges Atelier gesehen. Wow!
»Hey!« Charly tritt hinter dem Türflügel hervor und strahlt mich an.
»Hallo.«
Er winkt mich herein, und ich sehe mich um. Der Raum ist tatsächlich so groß, dass man darin Fahrrad fahren oder eislaufen könnte. Zumindest die Temperatur im Raum ist passend. Es ist kühl.
»Komm hier lang«, sagt Charly und winkt mich in einen Teil des Ateliers, der mit Plastikfolie abgetrennt ist. Dahinter ist es deutlich wärmer.
»Das ist Sophie!«, stellt Charly mich einem Mann um die fünfzig vor, der mit einem Lötkolben auf einem Hocker sitzt und an einer Skulptur aus Draht, Blech und alten Eisenteilen arbeitet. Neben dem Stuhl steht eine halbe Flasche Rotwein. Er sieht auf, und ich erkenne Charlys Grinsen, die dunklen Augen, den offenen Blick. Ich mag ihn. Wir nicken uns nur zu, denn er trägt Handschuhe und lötet gerade, und außerdem bin ich ja Charlys Gast.
»Willst du einen Tee? Ich kann einen kochen«, sagt Charly, und mir fällt auf, dass er aufgeregt ist.
»Gerne!«, sage ich und frage mich, wo und wie er das hier machen will. Ohne Strom.
»Wir bekommen Strom von unten, wir teilen uns einen Anschluss mit der Holzwerkstatt«, erklärt Charly und stöpselt einen Schnellkochtopf in eine Kabeltrommel, an der auch der Lötkolben und ein farbverschmierter Gettoblaster angeschlossen sind. Natürlich. Daneben liegen ein paar staubige Musikkassetten.
»Musik?«
Ich sehe kurz zu Charlys Vater, der nickt.
»Kannst was aussuchen«, sagt Charly und deutet auf eine alte Holzkiste am Boden, in der noch mehr Kassetten und CDs sind. Ich hocke mich vor die Kiste, aber meine Augen folgen Charly in die Ecke des Raumes, in der ein alter Tisch steht, der eine Art Kaffeeküche darstellt. Darauf stehen eine Kaffeemaschine, ein paar Becher und Gläser, Kaffeefilter, Kaffee und Teebeutel.
Obwohl der abgetrennte Raum nur etwa ein Viertel des gesamten Ateliers einnimmt, ist er immer noch so groß wie drei oder vier normale Räume. Auch hier gibt es große Fenster zum Hof hin, und es ist sehr hell. An der gegenüberliegenden Wand stehen tiefe Regale, in denen verschiedene Skulpturen stehen, die aus Schrottresten zusammengesetzt sind und trotzdem zum Teil figürlich wirken. Tinguely fällt mir ein, obwohl sich dessen Skulpturen bewegen und viel filigraner sind. Wir haben im Kunstunterricht darüber gesprochen, aber ich habe vergessen, was für eine Kunstrichtung das war.
Drei Viertel des Raumes werden von halb fertigen Skulpturen, einer Arbeitsbank und Sockeln eingenommen. Aber es gibt eine Ecke, in der große Holztafeln an der Wand lehnen, die farbig besprayt sind. Auf dem Boden stehen bestimmt fünfzig Spraydosen. Schablonen und Klebebänder liegen daneben. Charlys Ecke. Hier arbeitet er. Und er wird es mir zeigen. Es ist fast das gleiche Gefühl wie vor zwei Wochen, kurz bevor ich den ersten echten Banksy gesehen habe. Als wäre ich ganz dicht dran an etwas Echtem, Lebendigem. Das Gefühl ist so intensiv, dass ich mich frage, wie ich vorher ohne es auskommen konnte. Ich beneide Charly darum, dass er hier arbeiten kann.
Ich entscheide mich für eine Kassette, auf der
Sonic Youth – Dirty
steht,
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