Street Art Love (German Edition)
besprayt. Das Gelände ist kaum beleuchtet, aber es ist hell genug, um sich orientieren zu können. Charly sieht sich um, wir sind offenbar ganz allein hier. Ich fange an, mich zu entspannen.
Wir queren einige der alten Schienenstränge und sind da. Vielleicht wurden in dem Gebäude früher Züge repariert oder Waggons abgestellt. Jetzt steht es leer, die meisten Fensterscheiben sind eingeworfen, und Sprayarbeiten unterschiedlicher Qualität sind über die Außenwand verteilt.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass Charly diesen Ort ausgewählt hat, weil hier niemand unsere Tags sehen wird, es keinen interessiert, dass wir überhaupt hier sind und es absolut ungefährlich ist. Wie rücksichtsvoll. Und auf einmal bin ich enttäuscht. Ich habe mir die Sache doch etwas abenteuerlicher vorgestellt.
Ich zeige auf eine freie Stelle, die sogar ganz weiß gestrichen ist. Charly schüttelt den Kopf.
»Da ist schon jemand dran. Aber hier …«
Wir sind nun an einer Stelle des Gebäudes, die so versteckt ist, dass man sie schon fast suchen muss.
»Nein«, bestimme ich und sehe mich um. Wenn wir schon hier sprayen, dann nicht auch noch an einer vollkommen versteckten Stelle. Ich sehe eine Mauer, auch sie ist fast vollständig besprayt. Trotzdem gehe ich näher heran.
»Und wenn wir die Tags hier drübersetzen?«
»Nach oben?« Charly ist skeptisch.
»Dann suchen wir weiter.«
»Was hattest du gegen das Gebäude?«
»Da sieht man es ja gar nicht!«
Charly grinst breit. »Hey, du hast ja echt Sprayerblut.«
»Wieso?«
Er zeigt auf eine große Sprayarbeit auf der Wand. »Mit der Crew haben wir gerade einen Battle. Der Spot ist genial und das Bild auch. Du hast es kapiert. Es geht um gute Orte und gute Arbeit.«
Ich grinse, denn irgendwie höre ich ein Kompliment heraus.
Wir überqueren erneut die Schienen und finden ein weiteres Gebäude. Jemand hat etwas angefangen, aber es sieht so aus, als wäre es schon eine Weile her.
»Und wenn wir hier …?«
Charly nickt langsam. Hier sieht man uns allerdings schon von Weitem.
»Okay, du fängst an, ich passe auf, dann wechseln wir.«
Er reißt seinen Rucksack vom Rücken und holt vier Spraydosen heraus – zwei schwarze, zwei silberne – und kontrolliert die Aufsätze. Dann reicht er mir eine Atemmaske. Ich zögere und schüttele den Kopf.
»Die stört mich beim Arbeiten.«
Charly bindet sich ein Tuch über die Nase. Ich ziehe die Kapuze des Hoodie auf. Das muss reichen.
»Dann schnell!«, sagt Charly.
Auf einmal fühle ich mich wie gelähmt. Das hier ist nicht wie in einem Skizzenbuch, wo ich alles korrigieren kann. Jeder Strich muss sofort sitzen.
»Brauchst du das Bild?«, fragt Charly und öffnet den Rucksack.
»Geht schon.« Ich schließe die Augen und erinnere mich. Es ist doch genau wie sonst auch, wenn ich etwas abzeichne, nur dass es diesmal kein Modell ist, sondern ein Schriftzug, den ich selber erfunden und angelegt habe.
Ich spraye zittrig die erste Linie. Ich kann das. Ich gehe noch mal über die Linie, dann wird sie eben dicker, und finde in einen Rhythmus. Das große, fette M, dann die kleinen s, wie Schlangen, und statt des i-Punktes spraye ich eine Krone. Die Outline ist fertig, ich wechsle die Dose. Und dann fällt es mir auf. Beim ersten Strich, den ich auf die Wand setze. Grau oder eher silbern. Damals war ich beleidigt – Ich soll Grau sein? Und was ist ein silbriges Grau? –, aber nun weiß ich es, und mir wird klar, dass dieses Silbergrau für Charly eine wichtige Farbe ist. Für alle Sprayer. Es ist ein Kompliment und wie ein weiterer Energieschub, mit dem ich das Tag beende. Fertig.
Charly dreht sich um, nickt zufrieden und macht mir mit dem Kopf ein Zeichen, dass ich nun aufpassen soll.
Charly arbeitet schnell und professionell. Ich möchte ihm gerne zusehen, aber dann kann ich das Grundstück nicht im Auge behalten. Ich lasse meinen Blick nur mit halber Aufmerksamkeit über das Gelände schweifen, hier ist bestimmt niemand, aber dann sehe ich einen Schatten. War da was? Der Schatten bewegt sich, ein zweiter kommt dazu. Zwei Männer.
»Da sind zwei Typen!«, flüstere ich, ohne mich zu Charly umzudrehen.
Charly sprayt weiter. »Wie sehen sie aus?«
Die Männer sind noch weit weg, stehen aber in der Nähe einer Laterne. Ich erkenne sie jetzt gut.
»Die sind älter.«
»Vermutlich der Wachschutz. Haben sie einen Hund dabei?«
Ich blinzele. »Nein, glaube nicht. Die tragen Jeans und kurze Lederjacken.«
»Verdammt!«
Charly
Weitere Kostenlose Bücher