Streng vertraulich
Anschuldigungen, ohne Strategien zu entwickeln, mit der Feindseligkeit des anderen in einem kleinen Zimmer klarzukommen. Wenn Angie es mit wie auch immer gearteten Nörglern oder Cholerikern zu tun hat, also mit Menschen, die sich bei allem, was sie tun, stets als Opfer der großen Verschwörung des Lebens betrachten, oder mit solchen, die mit einer vorhersehbaren, ärgerlichen Kleinigkeit nicht zurechtkommen und daran ersticken, dann wird Angies Blick ganz unbeweglich und ruhig, ihr Kopf und ihr Körper werden steif wie bei einer Statue, und der Nörgler oder Choleriker reagiert sich ab, bis ihn ihr Blick zum Stottern, zum Einlenken, zum Aufgeben zwingt. Entweder ergibt man sich dieser ruhigen Logik, erbleicht angesichts ihrer einschüchternden Reife oder schlägt darauf ein wie Phil und stellt sich selbst in Frage. Ich weiß, wovon ich spreche; ich war selber ein- oder zweimal Gegenstand dieses Blicks.
Im Wohnzimmer heftete Jenna den Blick auf den Boden; wenn sie den Rock noch etwas stärker bearbeitete, würde er sich bald zu ihren Füßen auflösen. Sie fragte: »Warum verraten Sie mir nicht, weshalb Sie hierhergekommen sind?«
Ich dachte darüber nach. Ich habe mich schon öfter in Menschen getäuscht. Mehrmals. Ich gehe immer davon aus, daß jeder Dreck am Stecken hat, bis ich vom Gegenteil überzeugt werde, und das hat mir bis jetzt immer geholfen. Aber hin und wieder war ich von der Ehrlichkeit eines Menschen überzeugt, bis ich den Dreck hinterher entdeckte, meistens auf schmerzliche Weise. Jenna kam mir nicht wie eine Lügnerin vor. Sie sah aus, als wüßte sie gar nicht, wie man das macht, aber oft sind es gerade solche Leute, die die Wahrheit nicht mal erkennen würden, wenn sie mit einem Namensschild am Revers vor ihnen stünde.
Ich antwortete: »Sie besitzen gewisse Unterlagen. Ich wurde beauftragt, sie zurückzuholen.« Ich hob abwehrend die Hände. »So einfach ist das.«
»Unterlagen?« wiederholte sie verächtlich. »Unterlagen. Verflucht noch mal.« Sie stand auf und fing an, hin- und herzugehen, und plötzlich sah sie sehr viel energischer und sehr viel entschlossener aus als ihre Schwester. Jetzt blickte sie mir ohne weiteres in die Augen. Die ihren waren rot und hart, und wieder wurde mir klar, daß Menschen nicht müde und besiegt auf die Welt kommen, sondern irgendwann so werden.
Sie fing an: »Mr. Kenzie, eines will ich Ihnen sagen«, und zeigte mit ausgestrecktem Finger auf mich, »das ist ein verdammt lustiges Wort. Unterlagen.« Sie hatte den Kopf gesenkt und schritt jetzt einen kleinen Kreis ab, dessen Umriß nur sie sehen konnte. »Unterlagen«, sagte sie erneut. »Okay, gut, nennen Sie sie, wie Sie wollen. Ja, Sir. Nennen Sie sie, wie Sie wollen.«
»Und wie würden Sie sie nennen, Mrs. Angeline?«
»Ich bin nicht verheiratet.«
»Gut. Wie würden Sie sie nennen, Ms. Angeline?«
Sie blickte mich an und zitterte vor Wut am ganzen Körper. Das Rot in ihren Augen war noch dunkler geworden, ihr Kinn war stolz und entschlossen nach vorn gereckt. Sie antwortete: »Mein ganzes Leben lang hat mich keiner gebraucht. Verstehen Sie, was ich meine?«
Ich zuckte mit den Achseln.
»Gebraucht«, wiederholte sie. »Mich hat nie einer gebraucht. Sicher, manche Leute wollten mich. Für ein paar Stunden oder so, vielleicht für eine Woche. Sie sagen zu mir: ›Jenna, mach Zimmer hundertfünf sauber‹ oder ›Jenna, lauf mal eben zum Laden rüber‹, oder sie sagen zuckersüß: ›Jenna, Schatz, komm mal her und leg dich ein bißchen zu mir.‹ Aber dann, wenn sie fertig sind, bin ich bloß wieder ein Möbelstück. Dann ist ihnen egal, ob ich noch da bin oder ob ich weg bin. Die finden immer einen, der für sie saubermacht oder für sie zum Laden läuft oder sich zu ihnen legt.«
Sie ging zu ihrem Stuhl zurück und wühlte in ihrer Tasche herum, bis sie eine Packung Zigaretten fand. »Hab’ zehn Jahre nicht geraucht - bis vor ein paar Tagen.« Sie zündete sich eine an und blies nervös den Rauch aus, so daß er wie eine Wolke in dem kleinen Zimmer hing. »Das sind keine Unterlagen, Mr. Kenzie. Verstehen Sie? Das sind keine Unterlagen.«
»Was ist es dann?«
»Es gibt da was. Ich habe da was.« Sie nickte sich selbst zu und ging weiter, während sie mit der Zigarette in der Luft herumstocherte.
Ich beugte mich ein wenig auf dem Stuhl vor und folgte ihr mit dem Kopf, ich kam mir vor, als sei ich in Wimbledon. Dann fragte ich: »Was haben Sie, Ms. Angeline?«
»Wissen Sie, Mr. Kenzie«, fing sie an, als
Weitere Kostenlose Bücher