Streng vertraulich
Simone bisher noch kein Anzeichen von Mordlust gegenüber ihrer Schwester festgestellt hatte; ich war mir also ziemlich sicher, daß sie den Mund halten würde.
Als wir vom Hauseingang aus ihrem Auto hinterhersahen, fragte ich: »Kennt dieser Socia Simone?«
Jenna schlüpfte gerade in eine leichte Strickjacke, obwohl die Temperatur jetzt, um acht Uhr morgens, schon auf die zwanzig Grad zuging. Sie erwiderte: »Er hat sie mal kennengelernt. Schon lange her. In Alabama.«
»Wann ist sie hierhergezogen?«
Sie zuckte die Achseln. »Vor zwei Monaten.«
»Und Socia weiß ganz bestimmt nicht, daß sie hier ist?«
Sie sah mich an, als sei ich besoffen. »Wir würden beide tot sein, wenn Socia das wüßte.«
Wir gingen zu meinem Auto. Jenna betrachtete es, während ich ihr die Tür öffnete. »Sind nie ganz erwachsen geworden, Kenzie, was?«
Und ich hatte mir mal eingebildet, das Auto beeindrucke die Leute.
Die Rückfahrt war genauso langweilig wie die Hinfahrt. Ich ließ Pearl Jams Ten laufen; falls es Jenna nervte, sagte sie es nicht. Sie redete nicht viel, sah nur nach draußen auf die Straße und knetete den Saum ihrer Strickjacke mit den dünnen Fingern, wenn sie mal gerade keine Zigarette in der Hand hielt.
Als wir uns der Stadt näherten und uns das hoch aufragende blaßblaue Hochhaus von Hancock und Prudential grüßte, fing sie an: »Kenzie.«
»Ja?«
»Werden Sie manchmal gebraucht?«
Ich dachte darüber nach. »Manchmal, ja«, entgegnete ich. »Von wem?«
»Von meiner Kollegin, Angie.«
»Brauchen Sie sie?«
Ich nickte. »Manchmal, ja. O ja.«
Sie sah aus dem Fenster. »Dann bleiben Sie besser bei
ihr.«
Der Berufsverkehr war in vollem Gang, als wir in der Nähe von Haymarket von der 93 abfuhren; wir brauchten fast eine halbe Stunde für die eineinhalb Kilometer bis Tremont Street.
Jennas Schließfach befand sich in der Bank of Boston auf der Tremont Street gegenüber dem Stadtpark, Ecke Park Street. Der Stadtpark Boston Common zieht sich hier hinter einem aus Beton errichteten Einkaufszentrum entlang, vorbei an zwei gedrungenen Gebäuden, die als Eingänge zur UBahn-Station Park Street fungieren, vorbei an einer bunten Schar von Straßenhändlern, Musikanten, Zeitungsverkäufern und Pennern. Horden von Geschäftsmännern und -frauen, von Politikern und Politikerinnen spazieren in forschem Tempo über den Gehweg, wo der Park wieder grün wird und bogenförmig bis zu den steilen Treppenstufen ansteigt, die zur Beacon Street hochführen. Über allem thront das State House, seine goldene Kuppel blickt auf seine Günstlinge herab.
Auf der Tremont Street zu parken oder dort auch nur länger als dreißig Sekunden im Leerlauf zu stehen ist ein Ding der Unmöglichkeit. Ein Aufgebot von Politessen, kurz nach dem Fall Berlins von Hitlers Bund Deutscher Mädchen abkommandiert, streift durch die Straßen, mindestens zwei pro Häuserblock, Pitbull-Köpfe auf hydrantenförmigen Körpern, und wartet nur darauf, daß jemand dumm genug ist, in ihrer Straße den Motor abzuwürgen. Wünscht man einer von ihnen einen schönen Tag, lassen sie dein Auto abschleppen, weil sie dich für einen Klugscheißer halten. Hinter dem OrpheumTheater bog ich auf den Hamilton Place ein und parkte in einer Ladezone. Die zwei Straßenecken bis zur Bank gingen wir zu Fuß. Ich wollte mit ihr hineingehen, doch sie blieb stehen. »Wenn eine alte schwarze Frau mit einem großen jungen Weißen in eine Bank geht, was denken die dann?«
»Daß ich Ihr Liebhaber bin?«
Sie schüttelte den Kopf. »Die denken, Sie sind von den
Bullen oder so und begleiten eine Niggerin, die erwischt worden ist. Wie immer.«
Ich nickte. »Schon gut.«
Sie erklärte: »Ich habe das nicht alles mitgemacht, damit ich
Ihnen jetzt weglaufe, Kenzie. Ich hätte letzte Nacht aus dem Fenster klettern können, wenn ich gewollt hätte. Also, warum warten Sie nicht auf der anderen Straßenseite?«
Manchmal muß man einem Menschen einfach vertrauen. Sie ging alleine, ich dagegen überquerte die Tremont Street und wartete in der Nähe der Park Street Station mitten vor dem Einkaufszentrum, der Schatten des weißen Kirchturms der Park Street Church fiel auf mein Gesicht.
Sie blieb nicht lange weg.
Sie trat nach draußen, erblickte mich und winkte. Sie wartete auf eine Lücke im Verkehr, um die Straße zu überqueren. Mit weit ausholenden Schritten, ihre Tasche fest in der Hand, kam sie auf mich zu. Ihre Augen hatten sich aufgehellt, in den Pupillen glühte brauner Marmor; sie sah
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