Stresstest Deutschland
hergestellten Produkte auch von irgendeinem Endkunden gekauft werden müssen. In der betriebswirtschaftlichen Logik hieße dies, dass das Marktvolumen mit jeder Kosteneinsparung bei den Arbeitnehmern sinkt. Verständlicherweise ist dieses Argument in einer globalisierten Welt, in der das Lammfilet in der Kühltruhe eines Supermarkts auf den Färöer-Inseln aus Kostengründen aus Neuseeland stammt, nicht sonderlich überzeugend. Die betriebswirtschaftliche Betrachtungsebene reicht daher auch nicht aus, um komplexe wirtschaftliche Wechselwirkungen greifbar zu machen.
Volkswirtschaftliche Fragen lassen sich deshalb nur auf der gesamtwirtschaftlichen Ebene betrachten. Kürzt ein deutscher Maschinenbauer die Löhne seiner Mitarbeiter, hat dies erst einmal keine unmittelbaren Auswirkungen. Sein chinesischer Kunde wird ihm die – nun preisgünstiger – hergestellte Maschine abkaufen und auf ihr beispielsweise technisch hochwertige Displays für Handys herstellen, die auch weiterhin ihre Kunden finden werden. Kürzen jedoch alle deutschen Maschinenbauer die Löhne ihrer Mitarbeiter, kann es passieren, dass sich diese aufgrund desgesunkenen Lohns nicht mehr jedes Jahr, sondern nur noch alle drei Jahre ein neues Handy kaufen können. Der chinesische Displayhersteller muss seine Kapazitäten zurückfahren und fällt dadurch als Kunde des deutschen Maschinenbauers aus.
Gesamtwirtschaftlich betrachtet hat jede unternehmerische Entscheidung auch Auswirkungen auf andere wirtschaftliche Bereiche, vor allem dann, wenn sie eine Eigendynamik auslöst. Liegen diese komplexen Wechselwirkungen bei der Betrachtung eines einzelnen Betriebs im kaum messbaren Bereich, so werden sie bei der Betrachtung einer ganzen Volkswirtschaft schon zu einer messbaren Größe, die schnell eine kritische Masse erreichen kann. Die deutsche Lohnzurückhaltung der letzten zwei Jahrzehnte war beispielsweise weitaus mehr als der Flügelschlag eines schwäbischen Schmetterlings, der in China einen Orkan auslöst.
Unsoziale Marktwirtschaft
Die Bilanz, die uns der Neoliberalismus eingebrockt hat, liest sich wie eine lange Liste des Schreckens. In den Vorkrisenjahren von 2000 bis 2008, die hierzulande als Boom gefeiert wurden, sind die Arbeitnehmerentgelte kumuliert um zarte vier Prozent gestiegen. 7 Die Haushaltseinkommen der Arbeitnehmerhaushalte sind in den acht Boomjahren insgesamt um neun Prozent gestiegen – bei einer inflationsbedingten Preissteigerung von zehn Prozent entspricht dies einem realen Einkommens- und Lohnrückgang. Da kann es kaum verwundern, dass die Konsumausgaben der Privathaushalte in den acht »fetten« Jahren auch lediglich um 2,4 Prozent gestiegen sind – magere 0,3 Prozent pro Jahr. 8 Noch nüchterner stellt sich die Lage dar, wenn man den Betrachtungszeitraum vergrößert. So sind die Löhne der Arbeitnehmer von 1995 bis 2010 insgesamt um 17,4 Prozent gestiegen 9 – im gleichen Zeitraum sind die Verbraucherpreise jedoch um 24,2 Prozent gestiegen. 10 Das erste Jahrzehnt des neuenJahrtausends war für die Arbeitnehmer bereits vor der Krise ein verlorenes Jahrzehnt.
Mancher Arbeitnehmer wird sich daher in den letzten Jahren verdutzt die Augen gerieben haben, wenn Medien und Politik von einem XXL -Aufschwung und einem Wirtschaftsboom schwadronierten. Die Arbeitnehmer konnten ja nicht wissen, dass nicht sie damit gemeint waren. Für die Unternehmen stellten sich die ersten acht Jahre des Jahrzehnts nämlich gänzlich anders dar: Die Lohnstückkosten 11 im produzierenden wie im weiterverarbeitenden Gewerbe konnten um 7,8 Prozent gedrückt werden, die Arbeitsproduktivität nahm dadurch um sagenhafte 24 Prozent zu. Dies führte dazu, dass die Unternehmens- und Vermögensgewinne um 42 Prozent steigen konnten. Die Primäreinkommen 12 der Kapitalgesellschaften stiegen sogar um schwindelerregende 443 Prozent. 13
Lagen die Gewinne der dreißig DAX -Konzerne im Jahre 2001 noch bei rund 170 Milliarden Euro, erhöhten sie sich bis zum Vorkrisenjahr 2007 bereits auf fast 600 Milliarden Euro. 14 2011 werden sie laut Allianz Global Investors mit rund 620 Milliarden Euro ihren bisherigen Höchststand erreichen. Dies entspricht nicht nur einer Steigerung von mehr als 360 Prozent, sondern auch einem Reingewinn, der, übertragen auf jeden der rund vierzig Millionen deutschen Haushalte, einer Summe von mehr als 15 000 Euro entspricht. Die dreißig größten Konzerne erzielen heute pro Jahr einen Gewinn, der so groß ist, dass man davon jedem
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