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Stresstest Deutschland

Stresstest Deutschland

Titel: Stresstest Deutschland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jens Berger
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Es steht außer Frage, dass es für einen Betrieb durchaus von Vorteil ist, wenn die Löhne seiner Beschäftigten sinken. Was für ein einzelnes Wirtschaftssubjekt – wie eben einen Betrieb – von Vorteil ist,muss jedoch gesamtwirtschaftlich noch lange kein Vorteil sein, was sich allein schon daraus schließen lässt, dass die Arbeitnehmer ja ebenfalls Wirtschaftssubjekte sind, die eine Lohnkürzung aber ganz gewiss nicht als Vorteil ansehen.
    Ein verlorenes Jahrzehnt
    Durchschnittliches reales Bruttoerwerbseinkommen je Dezil* (nur Vollzeitbeschäftigte in Euro)

    * Der Begriff Dezil beschreibt ein Lagemaß in der Statistik. Die Einkommensstatistik des SOEP teilt die Menge der Vollzeitbeschäftigten nach ihrem Einkommen in zehn gleichgroße Gruppen auf. Die Gruppe mit den niedrigsten Einkommen ist das erste Dezil, die mit den zweitniedrigsten Einkommen das zweite Dezil und die Gruppe mit den höchsten Einkommen ist schließlich das zehnte Dezil.
    Quelle: SOEP v27/DIW Wochenbericht 45/2010. Angaben in Preisen von 2005
    Nun sind es aber nicht gerade die Arbeitnehmer von im internationalen Wettbewerb stehenden Unternehmen, die hierzulande unter Reallohneinbußen leiden. Im Gegenteil, denn während die meist gewerkschaftlich gut organisierten Mitarbeiter in großen exportstarken Betrieben in der Regel noch nach einem ordentlichen Haustarif entlohnt werden, stehen die Niedriglöhner unserer Gesellschaft meist nicht im internationalen Wettbewerb. DieFriseurin an der Ecke kann ebenso wenig durch eine kambodschanische Kollegin ausgetauscht werden, wie ihr Kunde aus Kostengründen auf einen Friseursalon in Phnom Penh ausweichen kann. Das Gleiche gilt analog für nahezu alle Bereiche, in denen Hungerlöhne gezahlt werden – Supermärkte und Discounter stehen ebenso wenig im internationalen Wettbewerb wie Wach- und Schließgesellschaften, Altenpflegeheime, Putzkolonnen oder Gastronomiebetriebe.
    Man kann die Friseurmeisterin in Magdeburg ja auch verstehen, wenn sie die Position vertritt, dass sie bei ordentlicher Bezahlung ihrer Angestellten die Preise so stark erhöhen muss, dass sie nicht mehr konkurrenzfähig ist – die »Billigkonkurrenz« sitzt allerdings weder in Osteuropa noch in Südostasien, sondern direkt an der nächsten Straßenecke. Es ist richtig, dass der Wachmann sich von seinen sechs Euro Stundenlohn keinen Haarschnitt leisten und die Friseurin sich wiederum von ihrem Hungerlohn keine Putzfrau einstellen kann, die es sich wiederum nicht erlauben kann, im Restaurant mit der schlecht bezahlten Kellnerin zu speisen. All dies hängt jedoch direkt und indirekt zusammen und nennt sich Binnennachfrage. Würde die Friseurin ordentlich bezahlt, könnte sie sich eine Putzfrau leisten. Würde die Putzfrau einen fairen Lohn bekommen, könnte sie öfters im Restaurant essen, und der Gastwirt könnte allein schon aufgrund des höheren Umsatzes auch seine Kellnerin besser bezahlen.
    Flächendeckende Lohnkürzungen leiten aus gesamtwirtschaftlicher Sicht einen Teufelskreis ein, aus dem es oft kein Entrinnen mehr gibt. Sinken erst einmal die Umsätze aufgrund der gesunkenen Nachfrage, ist es sehr schwer, die Arbeitgeber zu antizyklischen Lohnerhöhungen zu überreden, die diesen Teufelskreis stoppen könnten. Stattdessen wird auf Umsatzeinbußen mit weiteren Lohnkürzungen reagiert, die wiederum weitere Umsatzeinbußen hervorrufen. Das Paradoxe an diesem Teufelskreis ist, dass jedes Wirtschaftssubjekt auf betriebswirtschaftlicher Ebene absolut rational agiert und damit dennoch einen Prozess in Gang setzt, der für ihn selbst keine Vor-, sondern nur Nachteile bringt.
    Der Flügelschlag eines schwäbischen Schmetterlings
    Ob man Lohnkürzung bei oberflächlicher Betrachtung als Voroder Nachteil ansieht, hängt somit vor allem von der eingenommenen Position ab. Wir kennen dieses Rollenspiel seit langem – die Arbeitgeberseite hat verständlicherweise andere Positionen als die Arbeitnehmerseite. Wir haben uns auch damit abgefunden, dass die Politik seit Jahrzehnten dazu neigt, für sich selbst die Perspektive der Arbeitgeberseite einzunehmen, und schon lange kein ehrlicher Makler mehr ist, der neutral zwischen den Interessengruppen vermittelt.
    Diese oberflächliche Betrachtung geht jedoch an der gesamtwirtschaftlichen Betrachtung vorbei – Autos kaufen nun einmal keine Autos und werden dies auch auf absehbare Zeit nicht tun. Wer die betriebswirtschaftliche Perspektive des Arbeitgebers einnimmt, ignoriert dabei, dass die

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