Stresstest Deutschland
deutschen Haushalt jedes Jahr einen neuen VW Golf schenken könnte. Zum Vergleich: Die Gesamtkosten für Hartz IV betragen rund vierzig Milliarden Euro pro Jahr – rund ein Fünfzehntel des Gewinns der dreißig größten deutschen Unternehmen.
Ist Wirtschaftswachstum ein Selbstzweck? Was nützt der Allgemeinheit das schönste XXL -Wachstum, wenn unter dem Strich 99 Prozent der Bevölkerung am Wachstum nicht teilhaben können, da ihre Lohnsenkungen der Treibstoff für den Boom sind? Ein Wirtschaftssystem, das in guten Zeiten nur den Vermögenden nützt und in schlechten Zeiten niemandem, ist im Kern marode.
Jedes System, das nicht die Verbesserung des sozio-ökonomischen Lebensstandards aller Bürger anstrebt, krankt nicht im Detail, sondern am Fundament. Wenn Ludwig Erhard die soziale Marktwirtschaft noch als System beschrieben hat, dessen explizites Ziel der »Wohlstand für alle« ist, kommt man nicht darum herum, das aktuelle Wirtschaftssystem als unsoziale Marktwirtschaft zu bezeichnen.
Hurra – wir sind Weltmeister!
Ein beachtenswertes Beispiel für die Wechselwirkung wirtschaftlicher Entscheidungen stellt der deutsche Exportüberschuss dar. Dabei geht es nicht darum zu kritisieren, dass eine Volkswirtschaft viele Güter ins Ausland verkauft, weisen die Exporte doch auch auf die internationale Konkurrenzfähigkeit der eigenen Wirtschaft hin. Problematisch wird es jedoch, wenn die Entwicklung der Exporte sich von der Binnenwirtschaft und der Entwicklung der Importe abkoppelt. Genau dies ist in Deutschland der Fall.
Im Jahre 1993 betrug die Exportquote Deutschlands 19 Prozent. 15 Der Wert der Ausfuhren betrug demnach fast ein Fünftel der gesamten Wirtschaftsleistung. Dies ist selbst für ein hochindustrialisiertes Land wie Deutschland ein sehr hoher Wert. Bis zum Jahr 2008 konnte die deutsche Volkswirtschaft diesen Wert jedoch sogar auf sagenhafte vierzig Prozent steigern. Die deutschen Unternehmen konnten ihre Ausfuhren also nicht nur in absoluten Zahlen, sondern sogar in Relation zur gesamten Wirtschaftsleistung des Landes in nur fünfzehn Jahren mehr als verdoppeln. Deutschland weist somit einen doppelt so hohen Exportanteil aus wie seine westeuropäischen Nachbarländer. Was sind die Gründe für diesen außergewöhnlichen »Erfolg«?
Von Seiten der Exportwirtschaft weist man gern darauf hin, dass deutsche Unternehmen nun einmal qualitativ hochwertige Produkte herstellen, die im Ausland sehr gefragt sind. Das ist sicherlich korrekt, aber dennoch nur die halbe Wahrheit. Der Hauptgrund für die deutsche Exportstärke sind die vergleichsweise geringen Löhne. Sicher – im Vergleich zu den Löhnen in Rumänien oder Bangladesch sind die deutschen Löhne natürlich hoch, dafür ist aber auch die hiesige Produktivität ungleich höher.
Für den gesamtwirtschaftlichen Vergleich sind daher auch nicht die absoluten Löhne, sondern die Lohnstückkosten von Interesse. Denn wenn man die bereits erwähnte magere Lohnentwicklung und die im Durchschnitt der OECD 16 -Länder liegende Produktivitätssteigerung betrachtet, erstaunt es natürlich nicht, dass die Lohnstückkosten in Deutschland, ganz im Gegensatz zu allen anderen EU -Staaten, 17 im letzten Jahrzehnt nahezu konstant geblieben sind. In unseren Nachbarländern sind die Lohnstückkosten im letzten Jahrzehnt zwischen dreizehn und 35 Prozent gestiegen. In der gesamten Eurozone (inklusive Deutschlands) stiegen die Lohnstückkosten im letzten Jahrzehnt um rund zwanzig Prozent. Es ist vollkommen klar, dass das deutsche Lohndumping über kurz oder lang zu einer Explosion der Exporte führen muss.
Entwicklung der Lohnstückkosten von 2000 bis 2010
Quelle: Eurostat
Im Jahre 2003 konnte Deutschland die USA als Exportweltmeister ablösen und wurde erst im Jahre 2009 von China wieder vom ersten Platz verdrängt. Anzumerken ist hierbei, dass bei der inoffiziellen Exportweltmeisterschaft natürlich die absoluten Exportergebnisse zählen. Deutschland steht hier also im Wettbewerb mit den hinsichtlich der Bevölkerung rund dreieinhalbmal so großen Vereinigten Staaten und dem rund zwölfmal so großen China. Doch selbst diese absurde Kraftmeierei ist erst dann aussagekräftig, wenn man die Exporte mit den Importen verrechnet. In der Disziplin »Exportüberschüsse« ist Deutschland unter den Industrieländern absolut und relativ unangefochtener Weltmeister. Dass die USA ein Handelsbilanzdefizit haben, gehört in Deutschland ja bereits zum Allgemeinwissen. Wesentlich
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