Strom der Sehnsucht
ihr zugefallen. Tante Berthe hatte das Bett nicht verlassen, seit ihr vor drei Tagen die Nachricht von Claires Tod überbracht worden war.
Angeline hatte Claires verkohlten Leichnam aus der ausgebrannten Ruine des Spielsalons bergen lassen und anschließend das Begräbnis und das Requiem bestellt. Auf ihre Veranlassung wurden die Uhren zur Todesstunde angehalten, die Spiegel zur Wand ge-dreht, die Türen mit schwarzem Trauerflor behängt und die Besucher, die ihre Aufwartung machten, mit einem Imbiß versorgt. Ungeachtet der sonderbaren Blicke, mit denen Angeline bedacht worden war, hatte sie die Gäste im Salon empfangen und die Abwesenheit von Madame de Buys entschuldigt.
Angeline stand auf und zupfte sich das eilig schwarz gefärbte Kleid zurecht. »Ich lasse bitten.«
Der schwarze Lakai trug die blaugoldene Livree der französischen Gesandtschaft. Er hielt ein mit Satin ausgeschlagenes Körbchen in der Hand, das er ihr präsentierte. Ein Umschlag mit ihrem Namen lag darin. Sie nahm ihn heraus und öffnete ihn.
»Um die Ehre Eurer Gegenwart wird gebeten...<<
Die Worte verschwammen ihr vor den Augen. Ein Abschiedsdiner für den ruthenischen Kronprinzen. Angeline räusperte sich. »Der... der Prinz will uns bereits verlassen?«
»Ja, Mademoiselle. Ich habe Anweisung, Euch mitzuteilen, daß die Gesellschaft aus Respekt vor der Trauer des Prinzen um seinen Halbbruder nicht sehr zahlreich sein wird.«
Es kostete Angeline Mühe, die Notiz wieder zusammenzufalten und in den Korb zurückzulegen. »Wie Er sieht«, erwiderte sie und deutete auf ihr schwarzes Kleid, »trage ich ebenfalls Trauer. Es wäre nicht schicklich, wenn ich käme.«
Der Diener nahm das zusammengefaltete Stück Papier mit der schönen Handschrift und legte es auf den Sekretär. »Ich habe auch Anweisung, und zwar vom Prinzen persönlich, eine Ablehnung von Euch, Mademoiselle, nicht anzunehmen.«
»Oh, aber Er muß.«
»Ich kann nicht.«
Er verbeugte sich und verließ das Zimmer.
Sie setzte sich wieder und starrte auf das weiße Stück Papier. Sie hatte versucht, die Erinnerung an die Ereignisse zu verdrängen und sich in die Aufgaben, die ihr aufgebürdet worden waren, gestürzt, um die Schrecken jener Nacht zu vergessen. Das hölzerne Gebälk des Spielsalons war trocken wie Zunder und wie ein Fidibus in Flammen aufgegangen. Kurz nachdem sie das Gebäude verlassen hatten, war es zusammengebrochen. Drei weitere Häuser in der
Reihe hatten Feuer gefangen, bevor die spät eintreffende Feuerwehr den Brand mit Hilfe des einsetzenden Regens unter Kontrolle bekam. Rolf und die übrigen Mitglieder der Garde sowie McCullough und seine Leute hatten bei der Bekämpfung des Feuers geholfen, außerdem die Hälfte der männlichen Bevölkerung von New Orleans. Schließlich hatte Rolf Angeline zum Haus der Witwe begleitet und Madame de Buys die Nachricht von Claires Tod überbracht.
Seitdem hatte sie Besuche von Gustav und Oswald empfangen, auch Andre war einige Male dagewesen, hatte ein paar Minuten bei ihr gesessen und belangloses Zeug über alles und jedes geredet, nur nicht über ihre Zeit mit Rolf. Ihn selbst hatte sie nicht mehr zu Gesicht bekommen.
Sie hatte das Gefühl, daß ihr Beisammensein mit dem Prinzen nun wohl zu Ende sei und er sie entlassen habe. In gewisser Weise war das sogar eine Erleichterung für sie, trotz des stechenden Schmerzes, der sie hin und wieder bei Tag und auch bei Nacht durchfuhr und ihr die Tränen in die Augen trieb.
Die Erinnerung tat unerträglich weh. Angeline hatte versucht, die Erlebnisse der letzten Wochen aus ihrem Gedächtnis zu streichen. Jetzt kam alles wieder in ihr auf: die unvergeßliche Angst, die Leidenschaft, die Lust und die Trauer. Sie wollte nicht mehr an die Nacht denken, in der sie von Rolf entführt worden war, und nicht an das, was danach geschah, statt dessen erinnerte sie sich an den Tag, an dem Meyer sie aus dem Jagdschloß hatte entkommen lassen. Sie hatte damals gedacht, seine Galanterie habe ihn dazu getrieben, aber jetzt wußte sie, daß er sie nur aus Rolfs Umgebung hatte entfernen wollen, bevor sie ihm etwas mitteilen konnte, was er nicht erfahren sollte: das Versteck ihrer Kusine.
Meyer war es auch, der Rolf in der Nacht betäubt hatte, als das Feuer ausbrach. Als Arzt der Garde hatte er die Medikamente in Verwahrung und hatte Rolf bestimmt etwas ins Essen getan. Ein Mann von schwächerer Konstitution wäre vielleicht allein an der Überdosis gestorben. Auch Meyer mußte darauf
Weitere Kostenlose Bücher