Stromschnellen: Roman (German Edition)
Demonstranten hinter sich gelassen hatte, holte sie tief Luft, als hätte sie im Innern der Klinik die ganze Zeit die Luft angehalten. Sie stapfte durch den Schneematsch zu Fishbones Pick-up und kletterte auf den mit Isolierband geflickten Beifahrersitz.
»Ich hab sowieso nicht geglaubt, dass du es tust«, sagte Fishbone und drückte seinen Zigarillo im Aschenbecher aus.
Margo wusste, dass es keinen Sinn hatte, ihm zu erklären, warum sie weggelaufen war. Sie wusste es ja selber nicht einmal genau. Also verschränkte sie nur die Arme vor der Brust.
»Du solltest deine Mutter besuchen, junge Dame.«
Margo nahm die Arme auseinander, öffnete ihren Geldbeutel und holte die Adresse ihrer Mutter sowie das Stück der Landkarte heraus, auf dem der Weg zu ihrem Haus verzeichnet war.
20. KAPITEL
»Ist deine Mutter reich?«, fragte Fishbone, als sie an der Adresse vorfuhren, die Margo seit anderthalb Jahren mit sich herumtrug. Vergangenen Monat hatte sie endlich die Zahlungsanweisung ihrer Mutter eingelöst. »Würde man nicht meinen, wenn man dich so sieht.«
»Hätte ich bloß meine Büchse dabei!«, sagte Margo.
»Nicht in einer Gegend wie dieser, junge Dame. Reiche Menschen werden leicht nervös, wenn sie arme Schlucker mit einer Waffe sehen.«
Fishbone wartete am Straßenrand im Pick-up, während Margo auf dem vom Schnee freigeräumten Betonweg zum Haus ging und klingelte. In der Auffahrt stand ein glänzender weißer Zweitürer. Als die Haustür einen Spaltbreit geöffnet wurde, fuhr Fishbone davon. Kalte Panik durchlief Margo.
»Wer ist da?«, erkundigte sich eine Frauenstimme durch den Spalt.
»Bist du das, Ma?« Margo zog die Pudelmütze vom Kopf, damit ihre Mutter sie erkennen konnte.
»Margaret Louise?«
Margo trat einen Schritt zurück, während ihre Mutter die Tür kurz schloss, um die Kette aufzuhaken.
»Ich habe dir doch geschrieben, Margo«, sagte sie mit einem Blick auf die Auffahrt und die Straße hinter Margo, »dass es keine gute Idee ist, jetzt schon zu kommen.«
»Daddy ist tot«, erwiderte Margo. Ihre eigenen Worte trafen sie mit der Wucht und Eindringlichkeit einer Enthüllung. Sie hatte ihren Vater in all den Briefen, die sie Luanne geschickt hatte, nie erwähnt, und auch Luanne hatte in ihren Antworten nie Bezug auf ihn genommen. Luanne machte einen Schritt nach hinten, und ihr Gesicht wurde ausdruckslos. Margo hätte ihre Worte gern zurückgenommen. »Es tut mir leid, Ma. Ich wollte es dir nicht auf diese Art sagen.«
Ihre Mutter stand wie erstarrt da, sie blinzelte nicht einmal. Margo hatte Angst, sie könnte zerbrechen wie Porzellan.
»Mir geht es gut, Mom, ehrlich.« Margo hatte noch nie »Mom« zu ihrer Mutter gesagt, immer nur »Mama« oder »Ma«, aber sie wollte wie ein ganz normales Kind klingen.
Luanne blickte über die Schulter ins Haus und sagte seufzend: »Ich habe sechs Monate nach dem Unfall davon erfahren. Ich hätte zu dir kommen sollen, aber ich hatte das Gefühl, es war zu spät.«
»Ist schon okay.« Margo strich über ihren Zopf. Sie versuchte ihre Mutter zu beruhigen. »Es geht mir gut.«
»Ich bin damals davon ausgegangen, dass Cal und Joanna sich um dich kümmern würden.« Luanne räusperte sich, und ihre Stimme klang wieder etwas kräftiger. »Du hast ja praktisch bei ihnen gewohnt.«
»Ja«, antwortete Margo und rang sich zu einem Lächeln durch.
»Komm rein«, sagte Luanne genau in dem Augenblick, als Margo glaubte, nicht länger an sich halten zu können. »Ich habe meine Kleine so lange nicht gesehen. Du hast mich völlig überrumpelt.« Luanne lächelte jetzt auch.
Margo wäre es lieber gewesen, die neue Umgebung erst ein paar Tage auf sich wirken zu lassen. Sie wäre vor dem Gespräch mit ihrer Mutter gern ein Stück von dem Haus mit dem Flachdach weggegangen und hätte sich dann umgedreht, um sich die großen Fenster, die sandfarbene Holzverkleidung, die zurechtgestutzten immergrünen Büsche und die beiden kegelförmigen, sich dunkel vom schneebedeckten Rasen abhebenden Kiefern am Gehsteig aus der Entfernung anzusehen. Sie wäre gern um das Haus herum und bis ans Wasser gegangen, um sich hinzuhocken und den Rest des Tages über den See zu schauen. Sie hätte ihre Mutter gern heimlich beobachtet, durch die Fenster den einen oder anderen Blick auf sie erhascht und sich mit ihren Gesten vertraut gemacht, bevor sie ihr direkt gegenübertrat.
Stattdessen folgte sie Luanne durch eine große Küche mit blitzblankem weißem Boden in ein mit Teppichen
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