Stromschnellen: Roman (German Edition)
für dich einen Termin beim Arzt.«
Margo hatte seit einer Weile unbewusst die Luft angehalten. »Ich war heute in der Klinik, aber ich bin weggelaufen.«
»Und warum bist du weggelaufen?«
Margo zuckte mit den Schultern.
»Sag mal, wo wohnst du jetzt eigentlich?«, wollte Luanne wissen. »In deinem Brief stand, dass du nur ungefähr zwanzig Meilen von hier entfernt lebst.«
»Am Fluss.« Margo nahm sich zusammen. »Ich fange Bisamratten mit Fallen, wie Großvater es mir beigebracht hat, und verkaufe ihr Fell. Und ich geh angeln. Außerdem gibt es da einen großen schwarzen Hund, den ich sehr mag. Er heißt ›Nightmare‹ und sieht aus wie Moe, der Hund von den Murrays.«
»Du ziehst Tieren das Fell ab?«, fragte Luanne langsam und lachte. »Dein Dad hat sich mal einen Kaninchenbraten von mir gewünscht. Damals warst du noch klein. Ich habe das Kaninchen mitsamt Fell und Innereien gebraten. Natürlich war mir klar, dass ich es hätte abbalgen und ausnehmen müssen, aber ich dachte mir, wenn ich es im Ganzen brate, wird er mich nie wieder um so etwas bitten. Ich habe es ihm lächelnd serviert.« Luanne ging aus dem Zimmer und kam wenig später mit zwei Tassen schwarzem Kaffee zurück.
Margo versuchte einen Schluck zu trinken, aber der Kaffee war zu heiß. »Dad hat immer gesagt, du könntest nicht mal Wasser kochen.«
Nachdem ihre Mutter sich wieder gesetzt hatte, sagte sie: »Du wohnst also am Wasser. Und weiter?«
»Ein Mann namens Fishbone hat mir beigebracht, wie man einer Bisamratte in nur zwei Minuten das Fell abzieht.« Sie hielt zwei Finger hoch und wiederholte mit Nachdruck: »Zwei Minuten. Unglaublich.«
»Bald ist Weihnachten«, wechselte Luanne das Thema. »Ich würde dir gern etwas schenken. Was wünschst du dir?«
Margo hob die Achseln.
»Im Ernst, du brauchst doch bestimmt etwas.«
»Strümpfe«, antwortete Margo. »Und Munition.«
»Hübsche Unterwäsche vielleicht? Darin fühlt man sich gleich besser.« Luanne hatte das Lächeln aufgesetzt, das Margo von all den Fotos her kannte. Allerdings wirkte es jetzt nicht künstlich, sondern echt. Luanne nippte an ihrem Kaffee. »Zu schade, dass nicht Sommer ist. Dann könntest du im Pool schwimmen. Komm, ich zeige ihn dir.«
Margo stemmte sich aus den Kissen hoch und stellte sich neben ihre Mutter an ein Seitenfenster. Luanne deutete auf ein großes grünes Rechteck zwischen ihrem Haus und dem Nachbarn. Auf der Abdeckplane lagen ein paar verstreute Blätter, aber kein Schnee. »Wir haben vor, eine Überdachung zu bauen, damit wir das ganze Jahr über schwimmen können.«
»Schwimmt ihr denn nicht im See?«
»Nein, nie.«
»Nimmst du immer noch Sonnenbäder?«
»Gott bewahre! Ich wünschte, ich hätte es all die Jahre nicht getan. Mittlerweile weiß man, dass es der Haut schadet. Du solltest auch vorsichtig sein und einen Hut aufsetzen, wenn du keine Falten kriegen willst. Man glaubt, dass im Winter nichts passieren kann, aber der Schnee reflektiert die Sonnenstrahlen, und das ist noch schlimmer. Es war schwer für mich, als ich das erfahren habe.« Luanne streckte die Hand aus und schob Margos Haar hinters Ohr.
Margo wandte das Gesicht ab. Sobald es nicht mehr unhöflich wirkte, schüttelte sie den Kopf, damit das Haar wieder lose fiel.
»Wie geht es Cal?«, erkundigte sich Luanne.
Margo zuckte mit den Achseln und nieste. Sie wusste nicht, was den Niesreiz ausgelöst hatte: das Parfum ihrer Mutter oder das vom Schnee reflektierte Sonnenlicht, das durch die Fenster strömte. Von ihrem Standort aus konnte Margo das nördlich gelegene Nachbarhaus sehen, ein weißes, eingeschossiges Gebäude mit rötlichem Spitzdach. Das Seeufer war zugebaut, so weit ihr Auge reichte, ein Haus am anderen. Auf vielen Grundstücken gab es aufgebockte und mit Persennings abgedeckte Sportfischer- oder Pontonboote.
»Warum duschst du nicht und ruhst dich ein bisschen im Gästezimmer aus? Und ich rufe in der Klinik an, bevor sie schließt.« Wieder berührte Luanne Margos Wange. Es erinnerte Margo an die Art und Weise, wie Brian sie an jenem ersten Morgen berührt hatte, als wäre sie aus formbarem Ton. »Du benutzt keine Schminke, stimmt’s? Nicht einmal Wimperntusche?«
Margo hatte zwar erst tags zuvor geduscht, aber das Badezimmer ihrer Mutter gefiel ihr. Es hatte zwei Waschbecken und duftete nach Erdbeeren. Die rosafarbenen Handtücher waren dick und flauschig, und das warme Wasser ging nicht aus, obwohl Margo eine halbe Stunde unter der Dusche stand. Als
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