Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stromschnellen: Roman (German Edition)

Stromschnellen: Roman (German Edition)

Titel: Stromschnellen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bonnie Jo Campbell
Vom Netzwerk:
ausgelegtes Wohnzimmer mit raumhohen Fenstern und Panoramablick auf den See. Hinten, in einer Ecke, stand ein gleichmäßig mit silbernen Girlanden, roten Kugeln, weiß blinkenden Lichterketten und ein paar Holzfiguren geschmückter Weihnachtsbaum. Margo trat ans Fenster. Die Weite des Sees, laut Landkarte war es eine Meile bis zum anderen Ufer, machte sie ganz benommen. Sie hatte ihrer Mutter so viele Fragen stellen wollen, aber jetzt fiel ihr keine einzige ein.
    »Du hast mir gefehlt, Mom«, sagte sie nur, während sie auf den See schaute. »Ich bin so froh, dich zu sehen.«
    »Du weißt, dass ich dich auch sehen wollte, Margaret. Du weißt, dass ich alles dafür gegeben hätte, aber es war nicht der richtige Zeitpunkt.«
    »Warum nicht?«
    »Als ich Roger kennenlernte, habe ich ihm erzählt, ich hätte keine Kinder. Wenn ich meine Geschichte jetzt ändere, stehe ich als Lügnerin da. Roger ist mein neuer Mann.« Luanne Stimme schwankte. »Er ist sehr witzig, ein toller Mensch, aber ein bisschen schrullig.«
    Der See war von derselben graublauen Farbe wie ein Reiherflügel. Weit draußen lag eine Insel. Margo wäre gern mit ihrer Mutter in einem Boot hingerudert.
    »Oh, Margaret. Ich freue mich wirklich, dich zu sehen!« Luanne kam zu ihr, schloss sie in die Arme und drückte sie lang und fest. Margo musste daran denken, wie ihre Mutter früher auf dem Bootssteg das dschungelgrüne Handtuch um sie gelegt hatte, aber jetzt wurde sie in ihrer Umarmung ganz steif. Vergebens suchte sie unter dem Parfum ihrer Mutter nach dem Duft von Kakaobutter. Als Luanne schließlich von ihr abließ, liefen Tränen über ihre Wangen. »Ich wollte dich nicht im Stich lassen, Margaret Louise. Komm, setz dich zu mir.«
    Margo ging mit ihrer Mutter zur Couch, zog die Jacke aus, faltete sie zusammen und legte sie sich auf die Knie.
    »Ich habe schon lang nicht mehr geweint«, gestand Luanne und tupfte sich mit einem Papiertuch die Augen ab. »Roger ist bis Freitag weg. Er arbeitet in New Jersey und kommt nur an den Wochenenden nach Hause. Ich kann also tun und lassen, was ich will, solange ich nicht über die Stränge schlage.«
    »Einen schönen Weihnachtsbaum hast du«, bemerkte Margo. Sie fragte sich, ob Smoke vielleicht gern einen Weihnachtsbaum im Haus hätte.
    »Er ist nicht echt. Weißt du noch, wie dein Daddy zu Weihnachten immer einen Baum geschlagen hat, der zu groß fürs Wohnzimmer war und sich deshalb bog? Was hast du noch mal als Spitze verwendet? Zwei mit Garn zu einem Kreuz zusammengebundene Eisstiele?«
    »Ein Gottesauge «, erklärte Margo. Joanna hatte ihr erzählt, ein selbst gebasteltes Gottesauge erlaube es Gott, über die Familie zu wachen. Luannes Weihnachtsbaum krönte ein beleuchteter Stern aus Silber und Glas. Margo ließ sich auf der Couch zurücksinken und staunte, wie weich sie war und wie die Kissen sie aufnahmen und gleichzeitig stützten. Am liebsten hätte sie den samtigen Stoff wie ein Hundefell gestreichelt. Eine Träne tropfte von ihrer Wange auf die Couch, noch bevor sie merkte, dass sie weinte. Sie wischte sich übers Gesicht. Luanne schob ihr eine Schachtel Papiertücher hin.
    »Wie findest du den See?«, erkundigte sie sich.
    »Er ist groß«, antwortete Margo. »Und sehr schön.«
    »Ich wusste, dass er dir gefallen würde. Ist dieses Haus nicht unglaublich?« Luanne machte eine weit ausholende Geste. An den weiß gestrichenen Wänden des geräumigen Wohnzimmers hingen Schwarz-Weiß-Fotos, die auf den ersten Blick an Strandlandschaften erinnerten, tatsächlich aber Frauenkörper zeigten. Der stattliche Kamin war so sauber gefegt, als hätte noch nie ein Feuer darin gebrannt, und das Marmorsims zierten ein paar abstrakte sandfarbene Skulpturen. Der dicke Teppich war makellos sauber. Luanne nickte in Richtung See. »Ist die Aussicht nicht wundervoll? Roger regt sich über den Gänsekot auf dem Rasen auf, aber mich stört er nicht. Er rennt immer herum und verscheucht die Gänse, wenn sie sich blicken lassen.«
    »Ich bin schwanger«, platzte Margo heraus. Das Wort fühlte sich in ihrem Mund hässlich und verlogen an.
    »Was? Oje, oje, Süße! Im wievielten Monat bist du?«
    »Im dritten.«
    »Man sieht noch gar nichts! Mach dir keine Sorgen, ich kümmere mich um dich. Ich weiß, ich habe mich nicht um dich gekümmert, als ich für dich da sein sollte, aber jetzt werde ich es tun. Ist dir morgens übel?«
    »Nicht mehr.«
    »Und was ist mit dem Kindsvater?«, fragte Luanne. »Weiß er

Weitere Kostenlose Bücher