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Stromschnellen: Roman (German Edition)

Stromschnellen: Roman (German Edition)

Titel: Stromschnellen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bonnie Jo Campbell
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jemals Anfälle gehabt habe? Rückenschmerzen? Sie kreuzte das Kästchen neben dem »Ja« an und schrieb »beim Holzhacken« in den Leerraum, doch gleich darauf wünschte sie, sie könnte es wieder löschen, weil sie fremden Menschen plötzlich nichts mehr von sich preisgeben wollte. Als eine Frau in einem weißen Kittel sie namentlich aufrief, erhob sich Margo und folgte ihr durch die geöffnete Tür, dann einen Flur entlang und in einen kleinen Raum.
    »Geht’s dir gut, Schätzchen?«, erkundigte sich die Frau. Sie hatte gepuderte Wangen, und ihre Lippen glänzten perlmuttfarben wie das Innere einer Muschel. Als Margo begriff, dass die Frau sich offenbar Sorgen machte und auf eine Antwort wartete, nickte sie.
    »Mach ruhig mit dem Fragebogen weiter. Der Arzt ist gleich bei dir«, sagte sie. »Kein Grund, nervös zu sein, er ist sehr nett. Er wird dich untersuchen und dann mit dir besprechen, welche Möglichkeiten du hast. Es gibt nichts, wovor du Angst haben müsstest. Zieh dich schon mal aus, und schlüpf in dieses Hemd hier.« Sie tippte auf das Patientenhemd, das gefaltet auf dem Untersuchungstisch lag. Dann hielt sie einen großen Papierbogen hoch und erklärte: »Damit kannst du deine Beine zudecken. Es dauert nur ein paar Minuten.«
    Der penetrante Raumduft erfüllte auch das Behandlungszimmer, das etwa so groß war wie das, in dem Margo als junges Mädchen immer zur Zahnreinigung gewesen war. Sie zog die Carhartt-Jacke ihres Vaters aus, hängte sie über die Stuhllehne, schlug die abgewetzten Ärmel auf dem Sitz übereinander, strich den ausgefransten Kragen glatt und zog die Jacke wieder an. Das kleine Fenster war zu weit oben, um etwas sehen zu können, aber Margo glaubte, dass es zum Wassergraben hinausging. Sie sah sich ein Plakat an, auf dem ein Mädchen in Margos Alter mit langem blondem Haar und gestreifter Bluse mit einem großen Kragen abgebildet war. Das Mädchen lächelte und hielt die Hand eines Jungen, der im Dunkeln stand. SCHÜTZE DICH stand da in großen gelben Buchstaben und darunter in kleinerer Schrift VOR UNGEWOLLTER SCHWANGERSCHAFT UND GESCHLECHTSKRANKHEITEN . Andere Plakate warben für Antibabypillen in beigen Schachteln, und bei einer waren die achtundzwanzig grünen, weißen und rosafarbenen Pillen wie Skalenstriche auf einem Ziffernblatt angeordnet. Margo zählte die Striche, während sie weiter wartete. Ein Plastikgebilde von der Größe eines Brotlaibs, das neben dem Waschbecken lag, sollte wohl den weiblichen Unterleib veranschaulichen, und unter normalen Umständen hätte Margo sich das Ding gern genauer angesehen, aber sie war zu nervös. Sie legte das Klemmbrett beiseite und versuchte, ihre Atmung in den Griff zu bekommen. Alles, was sie über Schwangerschaftsverhütung wusste, hatte sie in einem zweistündigen Sexualkundekurs in der siebten Klasse gelernt, aber wie sehr man aufpassen musste, hatte sie dabei nicht begriffen.
    Sie stellte sich vor, wie der Arzt ihr sagte, wo sie sich hinsetzen und wann sie sich hinlegen sollte. Sie war noch nie untersucht worden. Mit der Hand strich sie über das saubere Papier auf dem Untersuchungstisch. Sie hob das Patientenhemd hoch und legte es wieder hin.
    Wenn dieses Ding doch nur aus ihr herausschlüpfen und sich in Luft auflösen würde. Wenn es doch nur gar nicht da wäre. Ansonsten hatte sie keine Ahnung, was sie eigentlich wollte. Sie wusste nur, dass sie es hier nicht länger aushielt. Sie war nicht bereit, sich zu öffnen und in die Hände dieser fremden Menschen zu begeben. Genauso wenig wie sie zurück in die zehnte Klasse gehen, sich ins stickige Klassenzimmer setzen und irgendwelche Fragen beantworten konnte. Genauso wenig wie sie sich der Polizei stellen konnte, wie Michael es verlangt hatte, oder wie sie es ertragen hätte, dass ihr jemand brennende Zigaretten auf der Haut ausdrückte. Sie war hergekommen und hatte gesehen, wie es hier war, jetzt musste sie schleunigst nach Hause, um über alles nachzudenken.
    Margo ging durch die Tür, den Flur entlang und nach links. Ihr Herz pochte vor lauter Angst, jemand könnte sie aufhalten und zur Rede stellen. Sie drückte gegen die Tür zur Eingangshalle. Sie stemmte sich dagegen, aber die Tür bewegte sich nicht. Eine hübsche sommersprossige Frau in einem weißen Kittel kam zu ihr. Sie legte ihr die Hand auf die Schulter, zog an der Tür, und sie ging auf. Margo durchquerte die Eingangshalle, trat durch die Stahltür und hinaus auf den Gehsteig. Als sie das Gebäude und die

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