Stromschnellen: Roman (German Edition)
man tun kann«, fuhr Luanne fort. »Aber ich glaube, es gibt Schlimmeres, zum Beispiel zu bleiben, das eigene Leben zu verpfuschen und das des Kindes gleich mit. Und schau doch, wie gut du geraten bist! Du bist wunderschön.« Luanne nahm die Fernbedienung vom Couchtisch und stellte den Ton lauter. Dann legte sie sich auf die Couch und schob sich ein Kissen unter den Kopf. Sie schaltete auf Nachtbetrieb, knipste sich aus.
Margo saß eine Weile schweigend neben ihrer Mutter auf der Couch. Als sie sicher war, dass Luanne schlief, betrachtete sie ihr Gesicht und ihren Körper. Sie war zu dünn, fand sie. Margo hatte ihr öfter beim Schlafen als bei irgendetwas sonst zugesehen.
Anschließend sah sie sich im Haus um, bis sie im Keller Waschmaschine und Trockner fand, holte ihre Kleider heraus und ging zurück ins Gästezimmer, um sich schlafen zu legen. Sie fragte sich, ob ihre Mutter sie wohl ab und zu besuchen kommen würde, ob sie zusammen an Deck ihres Bootes sitzen und den Fluss genießen würden. Margo schlief rasch ein, wachte aber nach ein paar Stunden mit pochendem Herzen wieder auf. Sie musste an die Asche ihres Vaters denken und daran, wie weit weg sie war. Sie stand auf und versuchte das Fenster hochzuschieben, aber es ließ sich nur einen Spalt weit öffnen. Gegen vier Uhr morgens erwachte sie erneut und konnte nicht mehr einschlafen. Sie ging ins Wohnzimmer, doch die Couch war leer. Margo aß noch zwei Stück Pizza aus der Schachtel im Kühlschrank. Dann zog sie den Parka an, schnappte sich vom Herd ein paar Streichhölzer und ging hinaus. Sie sammelte so viel Reisig, wie sie finden konnte, und schichtete die Zweige möglichst weit weg von den Strahlern am Wasser zu einem kleinen Haufen übereinander. Dann entfachte sie auf dem gefrorenen Boden ein kleines Feuer und kauerte sich daneben. Es befand sich ganz nah am Ufer, und der Feuerschein wärmte sie.
Sie dachte daran, wie sie sich manchmal auf dem Rastplatz am Pokagon Mound oder in ihrem Lager in der Nähe des Marihuanahauses gefühlt hatte: Sie war stolz gewesen, dass sie wieder einen Tag und eine Nacht hinter sich gebracht, sich etwas Gutes zu essen besorgt und zubereitet und es sich warm und gemütlich gemacht hatte. Auch jetzt fühlte sie sich ein wenig so.
Sie legte sich mit dem Rücken in den Schnee und sah zu den drei Sternen auf, die den »Gürtel« bildeten und sich jetzt fast genau über ihrem Kopf befanden. Der »Schwan« und der »Delfin«, die sie mit dem Indianer gesehen hatte, waren verschwunden. Einmal hatte sie jemanden über ein Sternbild namens »Großer Hund« reden hören, und sie hätte zu gern gewusst, wo es sich befand. Sie hätte Smoke fragen sollen, was er am Firmament erkannte, aber abends waren sie normalerweise nicht draußen. Margo vermisste Smokes keuchende Stimme, sein Fluchen und die Art und Weise, wie sich seine Miene aufhellte, wenn Fishbones schlaksige Gestalt im Garten auftauchte. Sie vermisste die dringliche Eile des in der Nähe vorbeirauschenden Flusses. Verglichen damit wirkte der See wie tot.
»Ich weiß nicht recht«, sagte Margo am nächsten Morgen zu ihrer Mutter.
»Du musst noch gar nichts entscheiden. Beim ersten Termin wirst du nur untersucht. Man wird dir erklären, welche Möglichkeiten du hast.«
»Hat man dir erzählt, dass ich schon mal da war?«
»Nein. Ich habe gesagt, dass du gestern dort warst, aber nervös geworden und wieder gegangen bist, und da hat man mir einen neuen Termin für dich gegeben. Diesmal komme ich mit.«
Ihre Mutter saß im Bad neben ihrem Schlafzimmer an einem Tischchen und betrachtete sich im Spiegel. Margo lehnte in ihrer abgewetzten Jeans im Türrahmen, Armeemesser und Geldbeutel steckten in den Hosentaschen. Luanne nahm etwas Make-up und verrieb es auf ihrem Gesicht, bis es nicht mehr zu sehen war.
»Rudert manchmal jemand auf dem See?«, erkundigte sich Margo.
»Unser Nachbar hat ein Kanu. Und wir haben ein Pontonboot, aber es ist im Jachthafen im Winterlager.« Luanne malte sich die Lippen an, presste sie kurz auf ein Papiertuch, zog sie nach und lächelte sich zu. »Ich kann dir zeigen, wie man sich schminkt. Das ist etwas, was ich für dich tun könnte.«
Margo ging in die Küche, um dort auf ihre Mutter zu warten, und als sie erschien, fand sie, dass sie wie eine von diesen Frauen aus dem Fernsehen aussah. Ein glänzender schwarzer Gürtel betonte ihre schmale Taille. Die weit aufgeknöpfte Bluse gab den Blick auf ihr Dekolleté frei, und sie trug eine
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