Stromschnellen: Roman (German Edition)
aufgeben würde: seine Frau, seine Kinder, seine Firma. Er hatte zu viel zu verlieren. Cal und ich hatten eine Menge Spaß zusammen, aber er hätte mich vor einen Lastwagen gestoßen, um sein altes Leben zu schützen.«
»Daddy hat Cal gehasst«, sagte Margo. »Jetzt weiß ich, warum.«
»Dich zu verlassen war das Schlimmste, was ich je getan habe, Margaret, aber ich musste weg. Ich wäre sonst gestorben oder hätte mich totgesoffen. Ich habe nie dorthin gehört. Der Gestank nach Fluss hat mich wahnsinnig gemacht. An dem Tag, an dem ich fortgegangen bin, habe ich eine Blaue Zornnatter gefunden, das verdammte Biest hatte sich um meine Wäscheleine gewickelt. Und erst der Schimmel: Jeder Ledergürtel und jeder Lederschuh wurde mit der Zeit grün. Dich oder deinen Vater oder die verfluchten Murrays hat das nie gestört. Ich bin so lange geblieben, wie ich konnte. Das musst du mir zugutehalten. Ich habe gewartet, bis du ausgewachsen warst.«
Margo nickte, damit Luanne weiterredete. Anscheinend hatte sie zwischendurch das Gesicht verzogen.
»Weißt du noch, wie wir dich mit vierzehn am Baum gemessen haben?«
»Du bist weggegangen, weil ich nicht mehr gewachsen bin?«
Luanne stand vom Tisch auf und nahm ihr Glas und die Weinflasche mit ins Wohnzimmer. Margo folgte ihr, obwohl sie ohne Weiteres noch mehr Pizza hätte essen können.
»Du hast mich sowieso nicht gebraucht, Margaret. Als du zur Welt kamst, hatte ich keine Ahnung von Kindererziehung. Also habe ich dich tun lassen, was du wolltest. Ich dachte mir, du wüsstest eher als ich, was ein Kind braucht.«
»Mich hat es nicht gestört, dass du von Erziehung keine Ahnung hattest.«
»Die Murray-Frauen schon! Sie haben gesagt, ich ziehe eine Wildkatze oder ein Wolfsjunges groß. Aber schau dich doch an! Wie perfekt du bist!«
»Ein Wolfsjunges? Das haben sie gesagt?«
»Ach, ich weiß nicht mehr, was sie gesagt haben. Mir sind diese Menschen egal. Aber nach Cal war ich verrückt«, gestand Luanne lachend. »Keine Sorge, du bist die Tochter deines Vaters. Darüber gibt es keinen Zweifel.«
»Auf dem Zettel, den du uns hingelegt hast, hast du geschrieben, dass du dich selbst findenwillst.«
»Ja, aber ich habe ziemlich schnell gemerkt, dass ich gar nicht nach mir selbst gesucht habe. Ich habe nach einem anderen Menschen gesucht, nach jemandem, der für mich sorgt.«
Margo sah durchs Wohnzimmerfenster auf die Lichter, die der Dunkelheit am Ufer Tiefe verliehen.
»Margaret, mein Schatz, sieh mich an! Du bist noch nicht alt genug, um zu verstehen, warum ich damals weggegangen bin. Manchmal muss man als Frau von vorn anfangen, man muss ein neues Leben beginnen und versuchen, glücklich zu werden. Ich weiß, das klingt selbstsüchtig.«
»Ich habe gedacht, du hättest mich vergessen.«
»Ach, Margaret, eine Mutter vergisst ihr Kind nie. Das solltest du wissen. Aber als ich mit deinem Vater zusammengelebt habe, habe ich immer von einem Haus wie diesem hier geträumt. Denk nur dran, wie wir uns zu dritt das winzige Bad ohne Wanne, nur mit Dusche, geteilt haben. Jetzt habe ich drei Bäder, besser gesagt vier, wenn man das kleine in Rogers Fotolabor mitzählt.«
»Daddy hatte vor seinem Tod mit dem Trinken aufgehört«, warf Margo ein.
»Ich wünschte, du könntest verstehen, warum ich noch mal von vorn, also bei null, anfangen musste. Roger ist ein netter Kerl, und unter den Männern gibt es so viele Schweine.« Sie schenkte sich noch einen Fingerbreit Wein ein. »Aber wie könntest du das verstehen? Du bist noch so jung.«
Margo schüttelte den Kopf. »So jung bin ich auch nicht mehr, Ma.«
»Es war dumm von mir, Roger anfangs anzulügen«, räumte Luanne ein. »Meinst du, ich sollte ihm die Wahrheit sagen? Was wird er dann tun? Womöglich verliere ich das alles hier.«
»Nein, es ist schon okay so.«
»Gott, ich wollte doch nur ein bisschen Spaß haben. Ich wollte nicht für immer von dir getrennt sein. Aber dann hat sich alles verselbstständigt.«
»In Murrayville hast du ständig geschlafen.«
»Ich war depressiv und eine Trinkerin. Du hast das anscheinend nicht gemerkt, aber alle anderen schon.«
»Ich wollte dich einfach nur sehen«, sagte Margo.
»Du hast alles Recht der Welt, mich für das, was du meinetwegen durchgemacht hast, zu hassen, Margaret. Hasst du mich?«
»Nein.« Margo versuchte sich Smokes Worte in Erinnerung zu rufen. »Jeder soll so leben, wie er will.«
»Weißt du, die Leute denken, ein Kind zu verlassen ist das Schlimmste, was
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