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Stromschnellen: Roman (German Edition)

Stromschnellen: Roman (German Edition)

Titel: Stromschnellen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bonnie Jo Campbell
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sondern dass dich jemand fährt.«
    »Vielleicht sollte ich noch eine Woche warten.« Margo musste an den Raumduft in der Klinik, an den Klemmhefter mit dem mehrseitigen Fragebogen, an das kleine Zimmer mit dem hohen Fenster denken. Sie hätte es ihrer Mutter nicht erklären können, aber beim Gedanken an all diese Dinge fühlte sie sich noch unwohler als gestern. Sie brauchte Zeit zum Nachdenken.
    »Vertrau deiner Mutter! Nur dieses eine Mal.« Luanne wandte ihr das Gesicht zu. Sie wirkte resigniert.
    Margo nickte.
    »In ein paar Minuten bin ich zurück, um dir mit dem Fragebogen zu helfen. Ich komme auch mit dir ins Untersuchungszimmer, um mit dem Arzt zu reden. Wir stehen das zusammen durch. Roger ist noch drei Tage weg, also lass uns sehen, ob sie den Eingriff auf Freitagmorgen legen können. Dann könnte ich dich anschließend nach Hause fahren, ich meine dorthin, wo du wohnst.«
    Margo beugte sich zur ihrer Mutter hinüber und umarmte sie. Diesmal fühlten sich Luannes Arme locker und entspannt an, und Margo hatte nicht den Wunsch, sich ihr zu entziehen.
    »Hier sind dreihundert Dollar, falls sie eine Vorauszahlung wollen«, sagte Luanne und machte sich von ihr frei. »Es werden die am besten angelegten dreihundert Dollar deines Lebens sein.« Sie drückte Margo sechs Fünfzigdollarscheine in die Hand.
    »Du hast für mich und Daddy getan, was du konntest. Mach dir keine Vorwürfe.« Margo öffnete die Wagentür.
    »Warum trägst du diese schäbige Jacke unter dem Parka?«, fragte Luanne.
    »Ich war mir nicht sicher, ob mir warm genug wäre.« Margo hatte den Reißverschluss des Parkas geöffnet, als ihr im Wagen zu heiß geworden war.
    »Ich nehme an, du trägst die Jacke aus Sentimentalität. Glaub nicht, dass ich deinen Vater nicht geliebt habe, Margaret. Er war ein guter Mensch. Das hätte ich dir sagen sollen. Ich musste von ihm weg, aber das heißt nicht, dass er kein guter Mensch war. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn er mich gelegentlich zum Essen oder zum Tanzen oder einfach nur auf einen Drink in The Tap Room ausgeführt hätte.«
    »Ich weiß.« Margo stieg aus und winkte. Sie betrat die Klinik, blieb jedoch hinter der Tür stehen und schaute hinaus. Sie konnte sich nicht überwinden, auch nur einen Schritt weiterzugehen.
    Kaum war ihre Mutter nicht mehr zu sehen, ging Margo wieder hinaus und lauschte dem Rieseln im Graben hinter dem Gebäude, den sie bei ihrem ersten Besuch entdeckt hatte.
    Sie versteckte sich hinter der Klinik, bis das Auto ihrer Mutter wieder auf den Parkplatz fuhr. Erleichterung durchströmte ihren Körper, als sie sah, wie ihre Mutter aus dem Wagen stieg und auf die Klinik zuging. Sie war sich nämlich nicht sicher gewesen, ob sie wirklich zurückkommen würde, um ihr beizustehen.
    Margo folgte dem Rinnsal einen kleinen Hang hinunter, bis es unter der Erde verschwand. Sie suchte die nähere Umgebung ab, entdeckte ein Stück weiter die Stelle, wo es wieder an die Oberfläche kam, und ging an ihm entlang bis zu einem größeren Graben, der in einen eilig dahinfließenden Bach mündete, welcher sich wiederum nach ein paar Meilen in den Kalamazoo ergoss. Das Ufer des Flusses war mit Müll übersät: Glassplitter, rostige Kanister, mit grünlichem Schleim gefüllte Plastikflaschen, ausrangierte Fahrradrahmen und Autoreifen. Margo verstand nicht, wie die Menschen den Fluss so verschandeln konnten. Sie ging an Eisenbahnschienen entlang und an Schrottplätzen sowie an Häusern mit Schrottplätzen im Hinterhof vorbei. Sie kam an Geschäften, kleinen Fabrikgebäuden, ein paar Bars mit Neonlichtern in den Fenstern und an einem Golfplatz vorüber. Schließlich vergrößerte sich der Abstand zwischen den Häusern. Meilenweit wanderte sie an unbebautem Land auf dem Südufer des Flusses entlang, bis sie in einer Kleinstadt über eine Autobrücke ans Nordufer gelangte, wohin sie gehörte. Trotz des kalten Windes schwitzte sie. Nachmittags brannte die Sonne auf sie herab, und sie zog den Parka aus und trug ihn über dem Arm. Es war bereits dunkel, als sie ihr Boot erreichte, doch sie ging weiter. Als sie ohne anzuklopfen die flussseitige Tür von Smokes Haus öffnete, erblickte sie in der spärlich beleuchteten Küche ihre Büchse in seinem Gewehrständer. Sie trat ein, ließ sich neben Smokes Rollstuhl erschöpft auf die Knie fallen und strich mit der Hand über Nightmares Ohren. Dann tat sie, was sie noch nie getan hatte: Sie legte die Wange an Smokes knochigen Schenkel und weinte.

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