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Stromschnellen: Roman (German Edition)

Stromschnellen: Roman (German Edition)

Titel: Stromschnellen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bonnie Jo Campbell
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befand, war sie dankbar, dass niemand sie gestört hatte. Keiner hatte nach ihr gerufen. Sie bewegte die Zehen in den Stiefeln, um sie aufzuwärmen. Dann aß sie das halbe Zimtbrot und ruderte weiter.
    Am späteren Nachmittag sichtete sie ein Stück voraus am Flussufer eine Tankstelle, an der man nicht nur auftanken, sondern – sofern man keine Angst hatte, gesehen zu werden – auch anlegen und einen Hamburger mit Pommes frites essen konnte, ohne sich mehr als ein paar Schritte vom Wasser zu entfernen. Margo versteckte sich kurz davor in dem Hafenkanal eines auf einer Insel gelegenen Cottages. Dort war keiner zu Hause, und so blieb sie bis zur Dunkelheit dort und ruhte sich aus, bevor sie weiterfuhr. Sie befand sich jetzt zwölf Meilen flussaufwärts von Murrayville und wusste nun, dass sie gegen die Strömung nur etwa eine Meile pro Stunde schaffte. Unbemerkt passierte sie die Tankstelle und kam danach größtenteils an mondbeschienenen Wäldern und Feldern vorbei, aber auch an Häusern und Cottages mit Schwimmstegen und Flößen sowie an den Rückseiten von Autohäusern und Maschinenhallen. Ein paar Stellen am Fluss waren ihr vertraut: ein Fels, in dem im Sommer Schwalben nisteten, eine Steinmauer und ein Turm, beides ihrem Großvater zufolge von Indianern gebaut, und ein paar uralte Bäume, die ihre Äste auf eine Weise übers Wasser streckten, die ihr großzügig erschien, so wie ihr Grandpa großzügig gewesen war, oder groß und anmutig wie Tante Joanna. Das Schimmern der Scheinwerfer auf der Wasseroberfläche erinnerte Margo daran, dass ihre Mutter irgendwo dort vorn lebte. Sie ruderte den Großteil der Nacht durch und biss immer wieder ein Stück vom Zimtbrot ab, bis nichts mehr übrig war. Als ihr vor Müdigkeit beinahe die Augen zufielen, machte sie an einem abgestorbenen Baum fest und legte sich erneut schlafen.
    Am nächsten Morgen fühlte sich die Haut in ihrem Gesicht vor Kälte rissig an, und sie hatte Muskelkater. Langsam machte sie sich wieder auf den Weg. An jeder Biegung wechselte sie auf die andere Seite, denn sie wusste, dass das Wasser an der Außenseite der Kurven seicht und langsam und an der Innenseite, wo es nach und nach das Ufer abträgt, tief und schnell ist. Als sie durch eine Flussschlinge fuhr, musste sie daran denken, was ihr Großvater oft gesagt hatte, nämlich dass so eine Schleife nur eine vorübergehende Formgebung ist, weil der Fluss sich im Laufe der Jahrtausende immer wieder ein neues Bett sucht und dabei stets die kürzeste Strecke wählt – all den Häusern, die die Menschen ihm in den Weg bauen, und all den Stützmauern, Betonbrocken und Steinschüttungen, mit denen sie seine Ufer befestigen, zum Trotz. Der Fluss ist beharrlich, hatte Grandpa gesagt, und die Menschen geben irgendwann auf. Margo erinnerte sich, wie sie damals gedacht hatte, dass sie selbst nie den Versuch aufgeben würde, sich den Fluss zu eigen zu machen, aber sie hatte es nicht laut ausgesprochen. Jetzt kam ihr der Gedanke, dass ihr Großvater vielleicht von seinem eigenen Haus gesprochen hatte, vom großen Haus der Murrays, das irgendwann fortgespült werden könnte. Vielleicht hatte er damit sagen wollen, dass die Murrays nicht für immer die Herren des Flusses sein würden. Das Flussparadies der Murrays, von dem Margo geglaubt hatte, es wäre von Dauer, hatte der alte Mann, der es erschaffen hatte, für vergänglich gehalten.
    Am Nachmittag des zweiten Tages waren ihre Hände voller Blasen vom Rudern, und ihre Arme schmerzten. Sie war so müde und hungrig wie noch nie in ihrem Leben. Als sie in den Beinen auch noch Krämpfe bekam, ließ sie sich eine Weile von der Strömung zurücktragen und sah dieselben Bäume, an denen sie sich eben noch vorbeigekämpft hatte, an ihr vorüberziehen. Gleichsam schwerelos glitt sie an einem weiß gekalkten Steg vorbei, an dem sie sich wenige Minuten zuvor Stückchen für Stückchen vorbeigearbeitet hatte. Um nicht noch weiter abzutreiben, steuerte sie das Boot auf eine Sandbank und öffnete das Plastiktütchen, das Junior ihr gegeben hatte. Sie nahm den Joint heraus, zündete ihn mit einem Streichholz aus ihrem Rucksack an und rauchte die Hälfte in der Hoffnung, sich damit zu betäuben, bis ihr ein wenig übel davon wurde, da warf sie den Rest ins Wasser. Innerhalb von Minuten war sie noch hungriger als zuvor.
    Im Verlauf dieses Nachmittags verfiel sie in Routine: Sie ruderte, bis sie spürte, dass ihre Arme nicht mehr mitmachten, legte irgendwo an, um sich

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