Stromschnellen: Roman (German Edition)
auszuruhen und Wasser zu trinken, und fuhr dann weiter. Als der Himmel sich purpurn färbte, hatte sie jedes Gefühl verloren für die Zeit und die Strecke, die sie zurückgelegt hatte. Beides schien sich in die Länge gezogen zu haben, seit sie von zu Hause fortgegangen war.
Als es dämmerte, war sie wie benommen. Die berauschende Wirkung des Marihuanas war schon vor Stunden verflogen, aber in ihrem Körper hatte sich, ausgehend vom knurrenden Magen, eine Leere ausgebreitet. Es war schon spät, als vor ihr wie aus dem Nichts der vertraute Pfahlbau mit den rechteckigen, von schummrigem Licht erfüllten Fenstern aufragte. Margo fuhr ein Stückchen vorbei, um Platz zum Manövrieren zu haben, aber kaum hörte sie auf zu rudern, trieb sie stark ab und musste sich erneut heranarbeiten. Sie versuchte ihre verkrümmten Finger an den Rudergriffen zu bewegen, aber sie waren in den ledernen Arbeitshandschuhen steif gefroren. Sie kannte diesen Ort von ihren Ausflügen mit ihrem Großvater bisher nur bei Tageslicht. Durch das flackernde Licht in den Fenstern wirkte die Hütte irgendwie gespenstisch. Brian hatte sie zwar eingeladen, aber sie hatte sich heimlich hier einnisten wollen, während er weg war. Von hier aus waren es nämlich nur noch wenige Meilen bis Heart of Pines.
Wieder ruderte sie ein Stück an der Hütte vorbei, steuerte das Ufer an und streckte im Näherkommen die Hand nach dem Holzsteg aus. Dabei hätte sie sich beinahe die Finger zwischen ihrem Boot und dem Steg eingeklemmt. Sie machte neben dem MerCruiser fest, den sie erst vor wenigen Tagen gesehen hatte. Auf der anderen Seite des Stegs lag ein Sportfischerboot aus Aluminium mit Außenborder. Der MerCruiser schlug ein paarmal sanft gegen ihr Boot, aber der Bug war fest am Steg vertäut. Sie nahm nur ihre Büchse mit und pirschte sich an die Hütte heran. Als sie die Holzstufen hochging, hörte sie Männerstimmen. Der Rauch, der aus dem Schornstein quoll, roch nach Kirschholz. Ihr Blick fiel auf einen hüfthohen Stapel gespaltenen Feuerholzes, das zwischen zwei Bäumen neben der Hütte aufgeschichtet war. Die schlichte Behausung war allem Anschein nach winterfest gemacht worden, als habe jemand vor, hier zu wohnen und nicht nur an den Wochenenden vorbeizukommen. Unweit des Stegs war eine Wäscheleine gespannt, und neben der Tür des Windfangs stand ein Plastikeimer mit Wäscheklammern unter dem vorspringenden Blechdach. Leise betrat Margo den Vorbau und blieb ein paar Minuten vor der Tür mit Glaseinsatz stehen. Sie erkannte Brian und seinen Bruder Paul mit ihrem schwarzen Haar und den Bärten. Was war nicht alles passiert, seit sie sie vor drei Tagen gesehen hatte! Brian stand auf und öffnete mit einem Blatt Spielkarten in der Hand die Tür. »Wer ist da?«
Margo holte tief Luft.
»Heilige Muttergottes!«, rief er und schob die Karten zusammen. »Sehe ich da ein hübsches Gespenst, oder hat sich die Flussjungfrau herbemüht, um mich zu beglücken? Komm rein und mach die Tür zu, draußen ist es kalt.« Er ging zurück zum Tisch, setzte sich und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, um sie in Augenschein zu nehmen. Margos Anwesenheit schien ihn ernsthaft zu überwältigen. Paul, der mit dem Rücken zur Tür saß, warf mit zusammengekniffenen Augen einen Blick über die Schulter. »Herrje, Brian! Was hat eine Frau mit Gewehr hier zu suchen? Will sie uns erschießen?«
»Setz deine Brille auf, Pauly. Es ist Maggie Crane«, sagte Brian.
Margo hätte vor Erleichterung weinen können. Endlich war sie an einem Ort, an dem sie sich ausruhen konnte! Sie war froh, den Elementen entronnen zu sein, aber die schiere Größe der Männer machte ihr auch Angst. Beide waren so hochgewachsen wie Cal, aber kräftiger. Sie war ihnen ausgeliefert. Gaben sie ihr nichts zu essen, würde sie verhungern. Schickten sie sie fort, würde sie erfrieren. Wollten sie sie zu irgendetwas zwingen, würde es ihnen wohl gelingen.
»Leg das Gewehr weg, Maggie, und setz dich her.« Brian zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor und schlug mit der flachen Hand auf die Sitzfläche. Margo stellte die Marlin mit dem Kolbenblech auf den Kiefernholzboden, lehnte den Lauf neben einen Besen in die Ecke und setzte sich auf den Stuhl neben Brian.
»Du kommst gerade rechtzeitig. Ich bin dabei, zu gewinnen!«, verkündete Paul.
Margo konnte sich nicht erklären, warum sie neulich der Auffassung gewesen war, dass sich die beiden Männer zum Verwechseln ähnlich sahen. Gut, sie waren gleich groß und
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