Stromschnellen: Roman (German Edition)
ihr her. Auch die Beagles schlugen in ihrem Zwinger an. Bei ihrem Boot angekommen, zitterte Margo so sehr, dass sie das Gewehr aus Versehen ins eiskalte Wasser fallen ließ, als sie es auf die Rückbank legen wollte. Rasch fischte sie es heraus, jedoch erst, nachdem es schon vollständig untergetaucht war.
Sie schüttelte es und trocknete es, so gut es ging, mit einem Handtuch aus ihrem Rucksack ab. Angetrieben von der Kälte und der Angst, entdeckt zu werden, legte sie die Büchse auf die Plane und wickelte sie wie ein Baby ein. Sie überlegte, dass die Geräusche, die sie beim Einsteigen machte, bestimmt über den Fluss und durch die Wälder hallten. Rasch nahm sie ein paar Bissen vom Zimtbrot, denn sie hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen. Als sie aufs Wasser hinausfuhr, spürte sie den Drang, sich von der Strömung tragen, sich ohne Anstrengung flussabwärts treiben zu lassen. Ihre Mutter wohnte aber stromaufwärts, also begann sie zu rudern.
6. KAPITEL
Als Margo drei Gewehrschüsse hintereinander hörte, wurde sie unruhig und verspürte den Wunsch, zurückzuschießen. Noch ein paar Tage war Jagdsaison für Hirsche. Als sie am Nordufer die Wohnwagen der Slocums sah, legte sie sich mit aller Kraft in die Riemen, um schnell daran vorbeizukommen und nicht gesehen zu werden. Eine Viertelmeile weiter machte der Fluss eine Biegung, und dahinter lag die verlassene Hütte, die Junior »Marihuana-Haus« nannte. Stimmen und Gelächter drangen an ihre Ohren. Margo manövrierte ihr Boot ein kleines Stück unterhalb der Hütte auf eine Sandbank und beschloss, dort zu warten, bis es völlig dunkel war, denn sie wollte kein Risiko eingehen, entdeckt zu werden. Sie zog die Handschuhe aus und hauchte ihre Finger an. Die winzige Hütte gehörte den Murrays und war bis vor drei Jahren von einem Bruder ihres Großvaters an den Wochenenden zum Angeln genutzt worden. Margo lauschte den Teenagerstimmen. Das Lachen eines Mädchens klang wie Maschinengewehrfeuer. Sie schob sechs Patronen ins Magazin der Marlin, lud durch und spannte den Hahn halb, um die Büchse zu sichern. Sie lag gut in ihrer Hand. Als es über längere Zeit ruhig blieb, kletterte sie ans Ufer, um sich einen Überblick zu verschaffen.
Ein Weißwedelhirsch näherte sich in kaum zweihundert Schritt Entfernung am Steg dem Fluss, drehte plötzlich den Kopf und blickte in ihre Richtung. Margo verlangsamte ihre Atmung. Die Büchse auf dem Knie, musterte sie das Tier. Sie zählte zehn Enden. Ihre Hände zitterten nicht mehr. Sie konnte den Hirsch mit der .22er erlegen, wenn sie ihn ins Auge oder an der Schläfe traf. Er senkte den Kopf, um aus dem Fluss zu trinken. Die Marlin-Lever-Action war ein klein wenig schwerer als die Repetierbüchse ihres Vaters, aber als Margo zielte, fühlte sie sich schwerelos und spürte ihre Erschöpfung nicht mehr.
»Nicht schießen!«, flüsterte eine weibliche Stimme hinter ihr laut.
Bei dem Geräusch schreckte der Hirsch auf, knickte kurz an den Läufen ein und sprang davon.
Mit einem Satz war Margo am Flussufer, stieg in ihr Boot und stieß sich ab.
»Hey, bist du nicht Juniors Cousine?«, rief das Mädchen. Im Davonrudern hörte Margo, wie es zu jemandem sagte: »Ich glaube, das war Juniors Cousine.«
Jetzt erkannte Margo das Mädchen: Es war eine von Juniors Freundinnen, Ricky hatte sie einmal als »Flittchen« bezeichnet. Margo hatte damals nicht weiter darüber nachgedacht. Sie räusperte sich und sagte: »Ich habe keine Cousins. Ich heiße Annie.«
Sie ruderte flussaufwärts, und während sie gegen die Strömung kämpfte, wurde ihr warm. Sie war froh, dass das Mädchen sie davon abgehalten hatte, den Hirsch zu schießen. Er wäre nur am Ufer vergammelt. Als ihr einfiel, dass sie das Haus der Murrays bei ihrem überstürzten Aufbruch nicht zugesperrt hatte, ruderte sie noch schneller. Ob Joanna für die Familie ein neues Zimtbrot als Ersatz für das backen würde, das Margo mitgenommen hatte? Nach etwa zwei Stunden zähem Rudern gelangte sie zu einem Nebenfluss und bugsierte das Boot ein kleines Stück hinein, bis sie vom Stark River aus nicht mehr zu sehen war. Sie machte an einer Baumwurzel fest, rollte sich auf der Rückbank in ihrem Schlafsack zusammen, griff nach der Marlin und war kurz darauf eingeschlafen. Vom Schaukeln des Bootes gewiegt, schlief sie am nächsten Tag so lang, bis die Sonne schon hoch stand. Sie erwachte frierend und mit steifen Gliedern, und obwohl sie im ersten Augenblick nicht wusste, wo sie sich
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