Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stromschnellen: Roman (German Edition)

Stromschnellen: Roman (German Edition)

Titel: Stromschnellen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bonnie Jo Campbell
Vom Netzwerk:
Wasser dicht an ihr vorbeikam. Nachdem es seinen Durst gelöscht hatte, hob es den Kopf und blickte sich um. Margo wunderte sich, dass es die tote Hirschkuh und sie selbst nicht witterte, obwohl sie nur einen Steinwurf von ihm entfernt waren. Es kletterte die Böschung hoch, und auch diesmal war Margo sich ziemlich sicher, dass es ein Hirsch war. Er blieb stehen und schnüffelte an der Rinde eines wilden Apfelbaums – etwas hatte sein Interesse geweckt. Dann stampfte er mit den Hufen auf den Boden, stellte sich auf die Hinterläufe und stützte die Vorderhufe gegen den Baum, wobei er den Blick auf Brust und Hoden freigab. Jetzt bestand kein Zweifel mehr über sein Geschlecht. Er schnupperte weiter oben noch einmal und biss in der Astgabel in etwas. Margo gab ihren zweiten Schuss an diesem Tag ab und traf ihn mitten ins Herz. Als der Hirsch zu Boden schlug, hörte es sich an, als würde er seufzen. Aus seinem Maul kullerte ein grauer Vogel, eine Trauertaube, deren schwarze Augen hervorquollen, flackerten und sich dann schlossen.
    Vor Überraschung hätte Margo am liebsten aufgeschrien. Hirsche fraßen doch keine Vögel! Aber sie wusste, dass es besser war, Ruhe zu bewahren und aus dem zu lernen, was sie sah. Als sie dem Hirsch mit dem Fuß leicht in die Rippen stieß, um sich zu vergewissern, dass er tot war, setzte neben ihr ein wildes Flattern ein. Die Taube wachte auf und schwang sich in die Luft.
    Eine Weile saß Margo still da und betrachtete den Schlamassel, den sie angerichtet hatte. Nach dem Schuss auf die Hirschkuh hätte sie das Gewehr entladen sollen. Sie hatte außerhalb der Saison gejagt, also hatte sie mit dem Schießen der beiden Tiere doppelt gegen das Gesetz verstoßen. Sollte sie je wieder eine Hirschkuh erlegen, so gelobte sie, würde sie sie wie einen Bock aufbrechen und aus der Decke schlagen. Schließlich aß sie ja auch weibliche Kaninchen und Eichhörnchen. Sie bedeckte den Kadaver der Kuh mit nackten Zweigen, gefrorenen Blättern und Schnee und hoffte, dass niemand ihn fand. Anschließend rollte sie den Hirsch auf den großen Schlitten und zog ihn langsam flussaufwärts über den Schnee.
    Als Brian nach Hause kam – er hatte nach der Arbeit in Heart of Pines noch ein paar Bier in The Pub getrunken –, hatte sie den Hirsch bereits auf einer Plastikplane aufgebrochen und die Eingeweide im Fluss versenkt in der Hoffnung, dass sie weggeschwemmt würden.
    Im ersten Moment war Brian entsetzt, als er sie mit einem außerhalb der Saison erlegten Hirsch sah, aber dann holte er eine Säge und half ihr, die Läufe abzutrennen. Sie knoteten ein Seil um den Hals des Tieres und zogen es hinter dem Haus an einem Baum hoch, außer Sichtweite von vorbeifahrenden Booten. Brian bot an, ihr beim Aus-der-Decke-Schlagen zu helfen, schien aber froh zu sein, dass sie sein Angebot ausschlug. Während sie sich an die Arbeit machte, hockte er sich auf einen Baumstumpf und nippte an einer Whiskeyflasche. Er schilderte ihr, wie einer seiner Kumpane einem Hirsch das Fell abgezogen hatte: Er hatte dem Hirsch einen Golfball zwischen den Schultern unter die Haut geschoben, ein Seil um den entstandenen Knubbel gebunden, dieses an einem Pick-up mit Vierradantrieb befestigt und war langsam angefahren.
    »Die Decke war in einer Minute runter«, sagte Brian. »Du würdest es nicht glauben. Das hättest du sehen sollen!«
    »Hast du schon mal gehört, dass ein Hirsch einen Vogel gefressen hat?«, fragte sie.
    »Ich hab mal einen Hirsch gesehen, der einen Fisch gefressen hat. Paul hat mich damals für verrückt erklärt, aber ich weiß, was ich gesehen habe.«
    Sie nickte.
    »Wir waren noch Kinder, und ich hatte ein paar Karpfen gefangen, die keiner essen wollte. Also habe ich sie bei uns in den Garten geworfen. Ich will verflucht sein, wenn ich an dem Abend nicht aus meinem Fenster geschaut und gesehen habe, wie ein Hirsch sie gefressen hat.«
    »Und warum hat er die Fische gefressen?«
    »Keine Ahnung. Eiweiß? Kalzium? Weil Fisch gut schmeckt? Aus demselben Grund, warum wir Fisch essen.«
    »Und was ist mit einem Vogel?«
    »Davon hab ich noch nie gehört.«
    Margo hatte es gern, wenn es etwas Neues gab, worüber sie nachgrübeln konnte. Auf der Welt trugen sich mehr Dinge zu, als sich ein Mensch ausdenken konnte. Als sie mit dem Häuten fertig war und die Hirschdecke schlaff wie ein Handtuch auf dem Boden lag, trank Brian den letzten Schluck Whiskey und ließ die Flasche fallen.
    »Maggie, du bist genau der Typ Mädchen, mit

Weitere Kostenlose Bücher