Stromschnellen: Roman (German Edition)
flussaufwärts nach Heart of Pines, um im Lebensmittelladen selbst einen Packen Munition und etwas zu essen zu kaufen. Bevor sie hineinging, versteckte sie ihr langes Haar unter einer Pudelmütze. Im Laden schenkte ihr niemand sonderlich Beachtung. Margo genoss das Gefühl von Freiheit, wenn sie allein unterwegs war. Sie gab ihre vierzig Dollar aus und hätte gern die Geldanweisung ihrer Mutter eingelöst, hatte aber Angst davor, auf dem Postamt ihren Namen anzugeben. Ihr Zuhause schien so weit weg, dabei lag Heart of Pines nur fünfunddreißig Meilen flussaufwärts von Murrayville. Der Beamte von der Umweltbehörde, der hier womöglich irgendwann auf die von ihr erlegte Hirschkuh stieß, war also derselbe, der sie damals zu Hause hätte drankriegen können, weil sie mehr Tiere als erlaubt geschossen hatte. Sie hatte die tote Hirschkuh das ganze Frühjahr hindurch besucht, immer wieder mit Zweigen zugedeckt und von Mal zu Mal festgestellt, wie viel Kojoten, Waschbären und Krähen bereits weggefressen hatten, wie das Gerippe mit dem noch knorpeligen Skelett des Fetus darin in sich zusammenfiel und ein Knochen nach dem anderen aus dem Haufen verschwand. Vergangene Woche hatte sie ihr Flintenlaufgeschoss aus den zusammengesunkenen Überresten ziehen können.
Als es im Frühjahr wärmer wurde und der Boden auftaute, nahm Brian Baumentfernungs-, Landschaftspflege- und Aushubarbeiten an. Für Letztere mietete er sich Maschinen oder benutzte einfach nur eine Schaufel, wenn der Platz knapp war und die Auftraggeber Angst um die Zierbüsche über ihrer Klärgrube hatten. Zwar vermisste Margo ihren Vater in der wärmeren Jahreszeit kein bisschen weniger, aber mittlerweile hatte ihr Körper die Trauer verinnerlicht, sie durchströmte sie und war zu einem natürlichen Bestandteil ihrer Bewegungen geworden. Ihre Mutter vermisste sie auf ganz andere Weise: Der Gedanke an sie wühlte sie auf und stellte sie vor ein Rätsel. Sie versuchte sich Luanne in Situationen vorzustellen, die so heikelwaren, dass sie sich nicht sehen konnten, nicht einmal kurz. Wurde ihre Mutter etwa gefangen gehalten? Kümmerte sie sich um die Kinder eines anderen Mannes, um ein ganzes Dutzend vielleicht, sodass es für noch einen Menschen nicht reichte? Luanne sollte doch eigentlich wissen, dass man sich um Margo nicht großartig kümmern musste.
Am zufriedensten war Margo, wenn sie den hellbraunen Hund am gegenüberliegenden Ufer beobachtete. Er bellte so gut wie nie und brachte es fertig, mit der Schnauze dicht über dem Wasser bis zu einer Stunde regungslos dazuliegen. Margos Herz machte jedes Mal einen Hüpfer, wenn der Mann oder die Frau heimkam und den Hund aus dem Haus ließ. Wenn er dann mit großen Sätzen ans Ufer sprang, freute Margo sich mit ihm über seine Befreiung. Zu Beginn des Frühjahrs schien die Frau häufiger wegzubleiben, und im Mai tauchten sie und ihr Auto gar nicht mehr am Haus auf. Danach brachte der Mann abends viele Stunden allein damit zu, das Ölfässerfloß zu reparieren, bevor er es zu Wasser ließ und die Laufplanke auslegte, die Hecken rund ums Haus zu stutzen und den kleinen Schuppen zu streichen. Margo sah, wie er den Schmutz vom Hausdach fegte, anschließend die Regenrinnen säuberte und sogar mit einem Handtuch auswischte. Brians Hütte hatte keine Regenrinnen.
An dem Abend, an dem sie Brian zum ersten Mal richtig betrunken erlebte, war sie lange aufgeblieben und reinigte gerade die Winchester, die er ihr geschenkt hatte, als sie hörte, wie sein Boot am Steg anlegte. Kurz darauf schleppte Paul seinen Bruder mithilfe eines anderen Mannes die Stufen zum Windfang hoch.
»Hier hast du deinen Kerl«, sagte Paul. »Mach mit ihm, was du willst. Er war zu betrunken, um selbst zu fahren. Auf dem Heimweg haben wir das Boot des Sheriffs überholt, darum bleiben wir heute Nacht alle hier.«
An Pauls Blick, der träge von ihrem Hals zu ihrem Gesicht hochwanderte, sah sie, dass auch er betrunken war.
»Paul hat seine Brille ins Glas fallen lassen.« Brian war von der Couch unter dem Vorbau, wo sie ihn abgesetzt hatten, aufgestanden und wankte zur Türschwelle.
»Du hast meine verdammte Brille in den Drink geworfen«, stellte Paul klar. »Ich hab sie nicht reinfallen lassen.«
»Tut mir leid, Bruderherz. Weißt du …«, begann er, schien aber gleich wieder vergessen zu haben, was er sagen wollte.
Margo überlegte, dass es eine Dreiviertelstunde dauern würde, um die Hütte wieder warm zu kriegen, nachdem die Männer die
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