Stromschnellen: Roman (German Edition)
auf die Idee, Brian darüber auszufragen. Er stellte rund fünfundzwanzig Schritt flussabwärts ein paar Dutzend leere Bierdosen und Plastikflaschen auf eine Bahnschwelle und reichte Margo die Ohrenschützer, die er sich an den Oberarm geklemmt hatte. Dann lud er sein großes Gewehr und schoss, lud und schoss, und am Ende hatte er von zwanzig Schuss zehn Treffer. Er ersetzte die abgeschossenen Dosen und Flaschen durch neue, darunter auch zwei auf die Kante gestellte Sardinenbüchsen. »Bin wohl aus der Übung«, meinte er. »Vielleicht muss ich auch mein Visier einstellen.«
Mühsam legte Margo ihre .22er an. Ihre Armmuskeln waren immer noch vom Rudern geschwächt. Als sie den Abzug drückte, durchfuhr sie eine Art Stromschlag, und der erste Schuss ging daneben. Sie zielte erneut auf die Bierdose und verpasste ihr beim zweiten Schuss eine Delle. Beim dritten erwischte sie die Dose an der Oberkante, sodass sie durch die Luft gewirbelt wurde. Leichter Schwarzpulvergeruch stieg ihr in die Nase. Sie lud die Marlin mit fünfzehn der .22er Patronen, die sie aus Cals Waffenschrank genommen hatte, und lauschte kurz dem Rauschen des Flusses. Mit einer Schlaufe wäre es einfacher gewesen, das Gewehr zu stabilisieren, aber sie hielt den Arm, mit dem sie es stützte, so lange hoch, bis ihr Körper dies wieder als natürliche Haltung akzeptierte. Die nächste Dose traf sie voll und auch alle weiteren, dann lud sie nach und zerschoss sämtliche Flaschen. In diesen wenigen Minuten höchster Konzentration verspürte sie tiefen Frieden in sich. Sie ließ das Gewehr sinken und befühlte den Lauf, um zu sehen, ob er heiß geworden war.
»Heilige Scheiße!«, sagte Brian. »Das nötigt einem als Mann Respekt ab.«
Anschließend tauschte er seine M1 Garand gegen eine alte Winchester 97 Vorderschaftrepetierflinte Kaliber .12 mit Vollchoke. Aus dreißig Schritt Entfernung schoss er auf ein paar gefrorene Treibholzstücke, die er vom Rand des Flusses herbeigeschleppt hatte, und Margo sah, wie die Schrotkugeln ein nur wenige Zoll breites siebähnliches Muster ins Holz stanzten. Bei ihrem ersten Schuss wurde sie von der Wucht der Waffe nach hinten geschleudert. Daraufhin presste sie den Kolben fest gegen die Schulter und fing den Rückstoß mit ihrem gesamten Körper ab. Sie lud nach und schoss, bis sie blaue Flecken hatte. Obwohl das Krachen durch die Ohrenschützer gedämpft wurde, ging ihr jeder Schuss durch und durch, besänftigte und versöhnte sie.
Brian bot an, auch den nächsten Tag mit ihr in der Hütte zu verbringen, meinte aber, er könnte zweihundert Dollar auf die Hand verdienen, wenn er Dach und Regenrinnen eines Apartmentkomplexes säuberte. Es führte keine Straße zur Hütte, sie war nur per Boot zu erreichen, und das machte Margo die Vorstellung, allein hier zu bleiben, etwas erträglicher. Sollte jemand kommen, um sie zu holen, würde sie ihn auf dem Wasser früh genug sehen. Wenn der Fluss im Winter zufror, sagte Brian, säßen sie hier fest, und deshalb müssten sie ihre Bestände an Lebensmitteln, Ködern und Munition aufstocken. Die Aussicht, Vorkehrungen für den Winter zu treffen, schien ihm zu gefallen. Nachdem er mit seinem Boot flussaufwärts verschwunden war, entdeckte Margo ein Stück Seil, das zu kurz war, um es für etwas Vernünftiges zu gebrauchen. Sie drehte es auf und flocht dann die Stränge zu einem Gewehrriemen zusammen.
Am Abend desselben Tages suchte Brian Carpinski auf und ließ sich von ihm über Margos Mutter Bericht erstatten. Nachdem Luanne ein paar Monate mit Carpinski zusammengelebt hatte, war sie offenbar mit einem Lastwagenfahrer mitgegangen. Carpinski konnte sogar eine Adresse in Florida liefern, aber der Brief, den Margo dorthin schickte, landete eine Woche später mit dem handgeschriebenen Vermerk Wohnt nicht mehr hier wieder in Brians Postfach. Brian versprach, sich weiter umzuhören und noch einmal mit Carpinski zu reden, wer weiß, vielleicht fiel ihm noch etwas ein. Brian zufolge hatte Carpinski nach über einem Jahr noch mächtig daran zu knabbern, dass Luanne ihn verlassen hatte.
Brian war der geborene Erzähler, er gab immer wieder seine eigenen, aber auch aufgeschnappte Geschichten zum Besten. Abends erzählte er oft davon, wie er in Holzfällercamps im nördlichen Michigan aufgewachsen war, dass sie zum Angeln Bäche gestaut und mit Netz und Eimer Stinte gefischt hatten oder dass Männer ums Leben gekommen waren, weil sie zu nah am Abgrund gingen, als ein mit
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